Mittwoch, 31. Mai 2023

Tag 12: Das kleine Hotel in einem kleinen Dorf mitten im Wald.

Mittwoch, 24.05.2023
Morgens 11°, Nachmittags 24°, sonnig
6,25h mit Pausen, 4,75h reine Laufzeit
21km
See östlich von Zukaucizna nach Labanoras

Ich habe geschlafen wie ein Stein, die Nacht war warm und ruhig. Vor meinem Zelt warten 1.200 Mücken in der Morgenfeuchte darauf, daß ich das Zelt verlasse, aber ich kuschele lieber noch ein bißchen mit meinem Schlafsack. Das Zusammenpacken gelingt mir heute nur mit Mißmut, ich mache mir Sorgen um die Blase am Fuß und um meine Knie, die seit gestern anfangen, wieder leicht zu versteifen. Sowas hatte ich vor ein paar Jahren in Spanien schonmal und ich würde gerne vermeiden, wie damals wieder eine längere Pause einlegen zu müssen.

Inzwischen bin ich im Labanoro Regioninis Parkas (muß ich nicht übersetzen, ne?) angekommen, eine herrliche Landschaft aus Wald und unzähligen Seen. Der Wind trägt den würzigen Duft eines kühlen Waldsees heran, der Himmel ist klar und weit, alles erinnert mich an Schweden.

Schon nach ein paar Kilometern merke ich aber, daß die Sache mit der Blase am Fuß nicht besser geworden ist, manche Schritte tun inzwischen richtig weh. Trotzdem traue ich mich nicht, zur Mittagspause Schuhe und Socken auszuziehen. Diesen Verkehrsunfall schaue ich mir mal lieber heute Nachmittag nach dem Ankommen an... Auch deswegen entscheide ich wieder spontan, die Route zu ändern und kürze ein paar Kilometer ab. Ich laufe durch kleine Dörfer, Prudiške, Juodapurvis, Pašiekštis und vorbei an einzelnen Holzhäusern irgendwo auf dem Feld. Manche noch bewohnt, manche verlassen und verwuchert.

Der Wind ist heute meine ständige Belohnung für den Tag auf heißen Sandwegen. Ein Rauschen in den Baumkronen kündigt an, daß der Wind gleich eine erfrischende Abkühlung bringt, eine kühle Brise streicht durch die Bäume und mir entfährt mehr als einmal ein zufriedenes "Aaaaah...".

Kurz vor Labanoras treffe ich wieder auf Asphalt, gleichzeitig knüpft meine Erinnerung an meinen letzten Trip hierher an. Ich war im Februar 2022 schonmal hier, damals tief verschneit und mit Temperaturen weit unter Null. Jetzt laufe ich die blühende Dorfstraße entlang, die damals von hohen Schneewällen gesäumt war. Im winzigen Dorfladen kaufe ich ein paar Getränke. Weiter hinten im Dorf gibt es ein ebenso winziges Hotel in einem charmanten Holzhaus, ich habe heute Nacht also wieder ein Dach über dem Kopf. Das Restaurant hat zwar geschlossen, aber das wusste ich vorher.

Ich pelle mich aus meinen Wanderklamotten und betrachte die schmerzende Stelle am Fuß. Schlimmer geworden, es hat sich eine Blase auf der Blase gebildet. Ich kümmere mich darum, dusche ausgiebig und will mich gerade auf dem Bett langmachen, da klingelt mein Handy. In bestem Englisch fragt der Sohn der Wirtsleute, ob ich vielleicht etwas essen möchte, sie würden mir was zurechtmachen, obwohl das Restaurant geschlossen hat.

Da muß ich nicht lange gebeten werden und 5min später sitze ich auf der Terrasse, habe ein vom Sohn selbst gebrautes Bier in der Hand und warte auf mein Essen. Mir kommen fast die Tränen, als Vorspeise und Hauptgericht serviert werden, äußerst lecker und liebevoll angerichtet, hier in diesem winzigen Dorf mitten im Wald. Verflucht, bin ich glücklich gerade.

Dienstag, 30. Mai 2023

Tag 11: Der stillste Wald der Welt.

Dienstag, 23.05.
Morgens 9°, Nachmittags 22°; sehr sonnig
6,75h mit Pausen, 4,5h reine Laufzeit
22km
See nördlich von
Pabradė
nach See östlich von Zukaucizna

Gestern Abend habe ich nochmal lange die Grenzen der inneren Sperrzone des Truppenübungsplatzes studiert. Die Route, die ich heute eigentlich gehen wollte, würde mich da tatsächlich tief hineinführen. Also ändere ich nochmal spontan meine Peilung und nehme lieber die Straße links um den See herum als den Waldweg rechts um den See herum.


Zwischen den Feldern liegen die Fischteiche in der stechenden Vormittagssonne, vom ersten Dorf Arnionys sehe ich nur einen alten Gutshof, bevor ich auf irgendeine Staubpiste abbiege, die mich drei Kilometer weiter am Waldrand wieder absetzen wird. Einzelne Häuser und Höfe sind auf den Feldern verstreut, manchmal so lose und weitläufig, daß nur die Müllcontainer an der Straße anzeigen, daß hier überhaupt jemand wohnt. Ažupravalis, Vidugiris, Giriniai. Ansammlungen von drei bis fünf Häusern, lose verteilt auf dem kleinen Horizont vom Waldrand bis zum nächsten Hügel.

Ich tauche wieder in den Wald ein, aus den Sümpfen links und rechts erheben sich Schwaden von Mücken, so daß ich mir zur Mittagspause zum ersten Mal das Mückennetz über den Kopf stülpe, um meine Ruhe zu haben. 

Stundenlang zieht sich der Waldweg ganz still an der inneren Grenze des Truppenübungsplatzes entlang, diesmal markiert mit gelb-roten Pfosten und diversen Extraschildern. Hier ist es so still und einsam, wie ich es sonst nur aus den entlegenen Gegenden in Skandinavien kenne.

 
Ich verpasse eine Abzweigung und handele mir nochmal 2km Umweg ein, aber was soll's. Es ist schön hier im Wald und ob ich nun eine halbe Stunde früher oder später ankomme, ist wirklich vollkommen egal.

Allerdings regt sich in meinem Schuh was. Obwohl ich schon 2 Wochen unterwegs bin und mein Körper sich größtenteils auf die Belastungen eingestellt hat, bildet sich heute im Laufe des Tages eine fiese Blase an meinem rechten Fuß. Blasenpflaster ist schon drauf, aber ich spüre trotzdem, wie das Fleisch heiß wird. Am Zeltplatz am See angekommen begutachte ich das Ganze, es ist ernst und schmerzt. Mehr als nur eine kleine Blase.

Aber der Abend entschädigt, ich baue mein Zelt auf einem kleinen Hügel auf, der auf 3 Seiten von Wasser umgeben ist. Später kommt noch ein junges Päarchen mit Kajak und Hund vorbei, baut sein Zelt 50m weiter auf und bummelt in den Abend hinein. Baden ist heute leider wieder nicht sehr einladend, die Wasserpflanzen im See geben mir das unschöne Gefühl, daß 100 Finger an meinen Beinen kitzeln, aber für eine gute Katzenwäsche reicht es. Ich gucke der Sonne beim Untergehen zu, arbeite mich an meinen Essensvorräten ab (in der Hoffnung, daß der Rucksack vielleicht mal wieder leichter wird) und lasse den Tag weggleiten.


Montag, 29. Mai 2023

Tag 10: Der Hasenfuß auf dem Truppenübungsplatz.

Montag, 22.05.
Morgens 9°, Nachmittags 21°; zunehmend bedeckt
7h mit Pausen, 5,25h reine Laufzeit
25km
Družiliai nach See nördlich von
Pabradė

Mein Gastgeber ist schon weg, als ich in einen sonnigen Tag aufbreche. Der Fokus des Tages liegt heute ganz klar auf der Halbzeit: Pabradė. Einizger größerer Ort weit und breit, Quell unerschöpflichen Einkaufsreichtums, Hüter des einzigen Pizzaladens in einem Radius von mehreren Tagesmärschen, letzte Station in der Zivilisation, bevor ich die nächsten Tage im Wald und im Truppenübungsplatz verschwinde.

Die ersten zwei oder drei Stunden folge ich grob der Bahnlinie, da passiert nicht viel, da muß ich nicht viel denken. Vielleicht mal ne kleine Entscheidung, ob ich hier schon Pause machen möchte oder lieber noch ne Viertelstunde gehe. Die Gegend hier fühlt sich etwas an wie Zonenrandgebiet, links von mir fließt immer noch die Neris und schneidet die Landschaft quasi in zwei Hälften. Richtige Brücken sind weit, an manchen Stellen gibt es wackelige oder sehr wackelige Drahtseil-Hängebrücken, auf denen die Anwohner den Fluß überqueren, um zu ihrem Autos und zur nächsten Straße zu kommen.

In Pabradė steuere ich den etwas größeren Supermarkt von zwei Möglichen an und genieße es förmlich, mit dem Körbchen durch die Gänge zu bummeln. Es gibt seltsamerweise keine Äpfel, dafür kandierte Früchte, Brot und Käse, Karotten und Hummus, eine luftgetrocknete Salami und anderes Snackfood. Mein Mückenmittel geht langsam zur Neige, was mir angesichts der ordentlichen Mückenpopulation im Wald nicht passieren sollte. Ich war clever und hab ein Foto von der alten Flasche gemacht, zeige das der Verkäuferin, und schon ist erklärt was ich suche, ohne daß ich summende Geräusche und stechende Gesten auf meinem Arm zur Illustration vormachen muß. So ging es mir im Supermarkt in Druskininkai. Es war peinlich und nicht von Erfolg gekrönt. Das Mückenmittel ist mal wieder an einem Ort im Supermarkt versteckt, wo ich es niemals alleine gefunden hätte; also gut, daß ich vorbereitet war.

Die Quittung: 20 EUR wärmer und 5kg schwerer. Ich muß wahnsinnig sein. Um das zu verdrängen, ziehe ich mit dem jetzt viel zu schweren Rucksack weiter rein in den Ort und peile den erwähnten Pizzaladen an. Mein Körper hat einfach entschieden, daß das jetzt sein muß. Was drin ist, ist drin. Alter Wandererspruch.

Weiter Richtung Norden, ich pirsche mich an den riesigen Truppenübungsplatz heran, der sich nördlich an Pabradė anschließt. Während der Planungsphase hatte ich schon viel recherchiert, ob ich hier überhaupt durchkommen würde, wo das Sperrgebiet anfängt und wo es aufhört; aber wie immer ist vor Ort dann doch alles anders. Am Ortsausgang hängt eine riesige Übersichtskarte mit irgendwelchen Grenzen und Zonen, die ich nicht identifizieren kann. Die aber auf jeden Fall voll da sind, wo ich eigentlich langlaufen möchte.

Verflucht, egal, ich mache erstmal einen kleinen Schlenker und vermeide die ersten Kilometer in der Zone. Diverse Schilder mit „Stop“ und rot-weiße Markierungspfosten ignoriere ich mal geflissentlich, denn ich kann ja im Zweifelsfall leider kein Litauisch. Wird schon gutgehen, ich werde versuchen, mich so weit wie möglich im Randbereich des Truppenübungsplatzes zu halten. Geht auch nicht anders, denn wenn mich irgendeine Patrouille des Platzes verweisen würde, dann müsste ich Umwege mit +20 oder +25km gehen. Ich möchte das nicht.

Der Wald ist hier nochmal dichter als sonst, die Mücken nochmal erbarmungsloser. Und eigentlich warte ich jeden Moment darauf, daß die Militärpolizei um die Ecke biegt und große Augen macht. Ich peile für heute Abend einen See an, der gerade so an der Grenze des Platzes liegt, da werde ich hoffentlich keine Probleme bekommen...

Eine halbe Stunde vor der Ankunft höre ich dann natürlich das, was ich am meisten gefürchtet habe: Motorengeräusche. Und um die Ecke biegt ein amerikanischer Militärjeep (Humvee, kennt man aus jedem amerikanischen Kriegsfilm), die Insassen gucken erstaunt – grüßen aber nur freundlich und fahren weiter. Später am Abend übersetze ich nochmal detailliert die Fotos von der Übersichtskarte des Truppenübungsplatzes: Offensichtlich war ich den ganze Zeit nur in der äußeren Pufferzone unterwegs, die man problemlos betreten darf. Die ganze Panik war also umsonst...

Meine Zeltwiese für heute Abend gehört eigentlich den Anglern, wie der Müll an allen Ecken verrät. Die Aussicht auf den See ist schick, das Wasser allerdings sumpfig und leicht kloakig. Zu einem abendlichen Bad kann ich mich nicht aufraffen. Ein paar Angler kommen, angeln, gehen, ich schlüpfe irgendwann in meinen Schlafsack und melde mich ab.


Sonntag, 28. Mai 2023

Tag 9: Glück findet sich am Ende meistens im Detail (selbst ausgedachter Kalenderspruch).

Sonntag, 21.05.
Morgens 8°, Nachmittags 21°; sonnig
6,5h mit Pausen, 5h reine Laufzeit
25km
Badeseen bei Bezdonys nach Družiliai

Ich hatte eine erstaunlich ruhig Nacht dafür, daß ich hier quasi auf dem Präsentierteller gezeltet habe. Der Parkplatz ist nur 100m weiter, bis Mitternacht kamen noch einige Badegäste auf dem Weg nach Hause an meinem Zelt vorbei, aber ich bin brav jedesmal sofort wieder eingeschlafen.
Morgens um 06:00 dann der erste Jogger, also war klar: Ich breche dann mal langsam auf...

Der Tag startet seltsam: Obwohl super Wetter ist, bin ich heute lustlos und maulig. Der Rucksack zu schwer, die Jacke zu warm und ach – ich kann mir heute offensichtlich nichts recht machen.
Im nächsten größeren Ort Bezdonys läuten gerade die Kirchenglocken und eine kleine Heerschar an Autos schwärmt zur Kirche. Ich widerstehe der Versuchung, mich dazuzusetzen.

Statt dessen scheuche ich zwei Zäune weiter die örtlichen Alkis auf, die sich eigentlich im Schatten des kommunalen Bauhofes in Ruhe was hinter die Binde kippen wollten, jetzt wo das ach so rechtschaffene Volk endlich in der Kirche ist. Sorry Jungs, bin schon wieder weg...


Ich werfe mich gleich hinter dem Ort in das Grad neben dem Bahndamm und mache erstmal Frühstückspause. Die Laune wird dadurch nicht besser, auch wenn mein Freßbeutel sich merklich leert (und dadurch leichter wird). Also lustlos weiter dem Sandweg folgen. Eine halbe Stunde weiter habe ich die Wahl, ob ich den Bach da vorne überwinde, indem ich den Bahndamm hochsteige und auf den Gleisen laufe oder ob ich die kleine Furt nehme und frohen Mutes durchwate. Ich entscheide mich für die Furt und es war genau richtig: Als ich gerade auf Höhe des Baches bin, rauscht ein Zug vorbei. Das hätte ekelig werden können. Statt dessen schnell Stiefel und Socken ausgezogen, rein ins kühle Naß und als ich am anderen Ufer sitze um die Füße zu trocknen, --- Auftritt lokale Dorfjugend:

Ich hab vorhin im Wald schon immer wieder Motocross-Maschinen gehört, hier tauchen plötzlich zwei Jungs mit ihren Motorrädern auf und nehmen die Wasserdurchfahrt mit. Der Erste schafft es aber irgendwie, seine Maschine so gekonnt abzuwürgen, daß am Ende beide Jungs direkt vor mir zum Stehen kommen, weil sie sich gegenseitig blockieren. Awkward! Ich merke, daß ihre Coolness einen deutlichen Knacks davongetragen hat, auf meinen freundlichen Gruß reagieren sie nicht mehr...


Das nächste Dorf Kreiveniai besteht im Wesentlichen aus kleinen Wochenendgrundstücken. Die Rasenmäher und -trimmer summen, überall Trubel, ich überhole den hier ansässigen Alkoholbotschafter mit zackigem Schritt, danach kommen noch ein paar Wochenend-Radfahrer und sogar ein wanderndes Päarchen. Der Sandweg geht über viele Kilometer an der Neris entlang, die aus Belarus kommend später auch durch Vilnius fließt. Es wird immer einsamer, der Weg immer schmaler, aber dafür bessert sich meine Laune. Es fühlt sich ein bißchen so an, als hätte ich mit ausreichend Abstand zur Stadt meine Reiseflughöhe wieder erreicht.


Kurz vor Santaka queren mitten im gefühlten Nirgendwo zwei Eisenbahnbrücken die Neris. Keine Ahnung, wie weit die nächste asphaltierte Straße weg sein mag. Die alte Brücke über den Fluß ist gesperrt und jetzt Dreh- und Angelpunkt der lokalen Fußgänger, die Züge fahren mit einem kleinen Schlenker über die neue Brücke. Ich stehe lange über dem Fluß und gucke aufs Wasser, staune über all das Grün und Blau, und nur eine Viertelstunde später bin ich an meiner Unterkunft für heute.

Ein absoluter Glücksgriff. Ein schönes Grundstück am Ende des Dorfes, mein Gastgeber und ich stellen schnell fest, daß wir keine gemeinsame Sprache sprechen (er litauisch & russisch, ich deutsch & englisch), aber mit Freundlichkeit, Google Translate und ein bißchen Zeit geht alles. Ich freunde mich mit den beiden Hunden an, bade unten im Fluß an einer der schönsten Badestellen, die ich bisher gesehen habe und sitze noch eine Stunde vor dem Haus in der Sonne.


Mein Gastgeber bringt Eier von den eigenen Hühnern vorbei, die ich im Geiste schonmal mit den getrockneten Schinkenscheiben kombiniere, die ich noch im Rucksack habe. Als die Sonne untergeht, plane ich noch ein bißchen an den nächsten Tagen herum. Morgen komme ich an Pabradė vorbei, dem größten Truppenübungsplatz Litauens, wo auch die Bundeswehr mit rumspringt. Die nächsten Nächte werde ich wieder im Zelt verbringen, auf dem Weg weiter nach Norden.

Samstag, 27. Mai 2023

Tag 8: Raus aus der Hauptstadt.

Samstag, 20.05.
Morgens 8°, Nachmittags 20°; sonnig
6,25h mit Pausen, 4h reine Laufzeit
22km
Vilnius nach Badeseen bei Bezdonys

Und wieder los. Es ist seltsam: Auf der einen Seite war der eine Pausentag in Vilnius viel zu kurz, auf der anderen Seite hätte ich es dort nicht länger ausgehalten. Gestern ging im Wesentlichen mit Schreiben und Bilder aussuchen vorbei, ich hab's noch nicht mal bis zur Post geschafft, wo ich eigentlich noch ein paar Dinge zurück nach Hause schicken wollte, um den Rucksack leichter zu machen. Aber noch einen Tag in Vilnius zu bleiben habe ich auch nicht über's Herz gebracht: Einerseits waren die Hotelpreise am Samstag astronomisch (fast alles ausgebucht wegen Rammstein-Konzert...), andererseits will ich weiter. Die erste Teilstrecke ist geschafft, jetzt nur nicht nachlassen.

Also mache ich mich wieder auf in den absurden Kampf, der Stadt zu entkommen. Diesmal sieht es aber komplett anders als als vorgestern, als ich durch Gewerbegebiete und Autobahnknoten nach Vilnius reingelaufen bin. Beim Verlassen der Stadt nach Nordosten laufe ich statt dessen durch Hügel, grüne Wäldchen, Villenviertel, Kleingärten, Einfamilienhaussiedlungen, Parks. Hier ist also das Geld zuhause. Die Häuser schwanken zwischen skandinavisch kühl bis vollkommen geschmacklos, Bentleys und Porsches sehe ich in jeder dritten Einfahrt. Und doch kommt nur 300m weiter wieder eine Insel von älteren, kleineren Holzhäuschen, wo Glas und Beton sich noch nicht durchgesetzt haben.


Ich bummele heute mit Absicht und mache an jeder dritten Ecke Pause. Die Etappe ist nicht lang und ich will heute Abend an einer Kette von Badeseen zelten. Da heute Samstag und das Wetter wirklich schön ist, wird es da mit Sicherheit recht voll sein. Macht also überhaupt keinen Sinn, schon um 15:00 aufzulaufen.

Deshalb snacke ich mich durch meinen Essensbeutel, lese zwischendurch ein bißchen und als ich irgendwann gegen 17:00 auf den ersten der drei Seen stoße, ist da wirklich die Hölle los. Der Parkplatz ist gepackt voll, es wird gegrillt und gelounged, und in mir steigt leise die Panik auf, wo zur Hölle ich hier in Ruhe mein Zelt aufstellen soll... Aber die Seeufer sind weit und zahlreich, ich bummele einfach weiter und am dritten See finde ich – als ich ihn schon fast umrundet habe – eine Badestelle, die auch nen ganz okayen Zeltplatz abgeben wird. Ich lungere noch ein bißchen herum, bis die Badegäste gegen 20:00 langsam so Stück für Stück verschwinden, schreite dann majestätisch mein Ufer ab und suche mir den schönsten Platz aus. Das Zelt steht, zum Sonnenuntergang springe ich nochmal ins Wasser, um mir den Schweiß und das Mückenmittel des Tages abzuwaschen.

Das Wasser ist warm genug, daß man es ein paar Runden aushält, ich rolle mich zufrieden in meinen Schlafsack ein und höre noch ein bißchen der Jugend zu, die am anderen Seeufer feiert.

Freitag, 26. Mai 2023

Pausentag in Vilnius.

Nothing to see here, ich war in der Hauptstadt beschäftigt.
Morgen geht's weiter...

Have a Drecksvieh instead...



Donnerstag, 25. Mai 2023

Tag 7: Kampfmarsch in die Hauptstadt.

Donnerstag, 18.05.2023
Morgens 6°, Nachmittags 17°; teils bedeckt, teils sonnig
8h mit Pausen, 7h reine Laufzeit
35km
Trakai nach Vilnius

Zähne zusammenbeißen und los. Draußen ist es noch naßkalt, daß ich zum ersten Mal meinen Atem kondensieren sehen kann. Das kann ja heiter werden... Das naßkalte Wetter hat aber auch den positiven Nebeneffekt, daß ich in der ersten Stunde auf dem Weg durch Trakai kaum jemanden treffe. An der Seepromenade, sonst überlaufen mit Touristen, E-Scooter-Verleihern und Eisständen bin ich heute früh alleine. Ich schieße schnell das Pflichtfoto der Wasserburg Trakai aus dem 14. Jahrhundert -- besichtigt habe ich sie schon und das hier ist kein Reiseführer. 

Die erste Stunde darf ich noch im Wald laufen, danach beginnt ein stundenlanger Tanz mit Bahnlinien, Gewerbegebieten, Autobahnen, Wohngebieten. Wo ist Platz für mich, wie komme ich da durch? In Lentvaris geht's ja noch: Ein bißchen Walzer mit der Straßenunterführung, ein wenig Rumba mit den kleinen Sandwegen im Wohngebiet.

Aber irgendwann rücken die Vororte von Vilnius unverkennbar in den Vordergrund. Baumärkte, Kleingärten, Garagenkomplexe, Wohnsilos, Füßgängerbrücken über Autobahnen. Die eigentliche Stadt betrete ich von ihrer besten Seite: Links von mir das Klärwerk, rechts die Recyclinganlage. Ein wahrhaft inspirierender Geruch und gleichzeitig der Beweis dafür, daß selbst ich bei der Planung am Kartentisch nicht immer alles bedenken kann.

Die Tour heute ist kein Spaß und ist rein technischer Natur. Muß halt sein, irgendwie muß ich ja in die Stadt reinkommen. Aber das Netz aus Autobahnen und unzugänglichen Orten rings um Vilnius herum ist wirklich schwer zu ertragen. Ich hatte relativ lange vorher recherchiert, wie man diesen Dschungel zu Fuß navigieren könnte, das klappt am Ende auch, auf schmalen Gehwegen neben sechsspurigen Straßen... 

Aber vielleicht ist das Vilnius gegenüber auch unfair. Keine Stadt ist schön, wenn man sie durch die  Hintertür betritt. Und natürlich hätte es auch einen schöneren Weg gegeben. Entspannt am Fluß entlang zum Beispiel, durch Parks, durchs Grüne. Dann wäre der Tag heute aber jenseits der 40km gelandet, das hatte ich mir wirklich nicht zugetraut. Also ziehe ich das hier jetzt durch. Auf mich wartet ein Apartment mit heißer Dusche und einem Balkon, um die Stiefel auszulüften.

Die Altstadt ist herausgeputzt und brummt vor Touristen, ganz anders als bei meinem letzten Besuch im vergangenen Winter. Jetzt sitzen überall Menschen in den Straßencafés, es wird gebummelt und die Sonne genossen. Ich bekomme erschreckenderweise Lust auf Stadturlaub, was mir sonst niemals freiwillig passiert. Aber erstmal stiefele da heute nur stur durch und weigere mich innerlich, in diese sowieso schon zu lange Etappe noch irgendwelches Sightseeing einzubauen. Vielleicht morgen, vielleicht auch gar nicht.  

Ich entere mein Apartment, das zwar schön ist, aber in einer so krass gentrifizierten Umgebung liegt, daß ich mich fast schon wieder schäme. Der Iki an der Ecke hat noch ein paar Getränke und Snacks für mich, die Waschmaschine arbeitet sich an meinen Klamotten ab, ich falle rückwärts aufs Bett und bewege mich heute Abend nirgendwo mehr hin. Morgen ist Pausentag. Herrlich.

Die erste Etappe ist geschafft. 181km waren es bis hierher, und das war nur zum Eingewöhnen. Locker mehr als 1.000km liegen noch vor mir, aber die erste Woche war super. Ich fühle mich fit und habe Lust auf Weiterlaufen, ins leere Nordost-Litauen hinein. Das entspannte Herumlümmeln in Apartments wird bald wieder ein Ende haben, ein bißchen freue ich mich auch schon auf die nächsten Zeltnächte...