Montag, 29. Mai 2023

Tag 10: Der Hasenfuß auf dem Truppenübungsplatz.

Montag, 22.05.
Morgens 9°, Nachmittags 21°; zunehmend bedeckt
7h mit Pausen, 5,25h reine Laufzeit
25km
Družiliai nach See nördlich von
Pabradė

Mein Gastgeber ist schon weg, als ich in einen sonnigen Tag aufbreche. Der Fokus des Tages liegt heute ganz klar auf der Halbzeit: Pabradė. Einizger größerer Ort weit und breit, Quell unerschöpflichen Einkaufsreichtums, Hüter des einzigen Pizzaladens in einem Radius von mehreren Tagesmärschen, letzte Station in der Zivilisation, bevor ich die nächsten Tage im Wald und im Truppenübungsplatz verschwinde.

Die ersten zwei oder drei Stunden folge ich grob der Bahnlinie, da passiert nicht viel, da muß ich nicht viel denken. Vielleicht mal ne kleine Entscheidung, ob ich hier schon Pause machen möchte oder lieber noch ne Viertelstunde gehe. Die Gegend hier fühlt sich etwas an wie Zonenrandgebiet, links von mir fließt immer noch die Neris und schneidet die Landschaft quasi in zwei Hälften. Richtige Brücken sind weit, an manchen Stellen gibt es wackelige oder sehr wackelige Drahtseil-Hängebrücken, auf denen die Anwohner den Fluß überqueren, um zu ihrem Autos und zur nächsten Straße zu kommen.

In Pabradė steuere ich den etwas größeren Supermarkt von zwei Möglichen an und genieße es förmlich, mit dem Körbchen durch die Gänge zu bummeln. Es gibt seltsamerweise keine Äpfel, dafür kandierte Früchte, Brot und Käse, Karotten und Hummus, eine luftgetrocknete Salami und anderes Snackfood. Mein Mückenmittel geht langsam zur Neige, was mir angesichts der ordentlichen Mückenpopulation im Wald nicht passieren sollte. Ich war clever und hab ein Foto von der alten Flasche gemacht, zeige das der Verkäuferin, und schon ist erklärt was ich suche, ohne daß ich summende Geräusche und stechende Gesten auf meinem Arm zur Illustration vormachen muß. So ging es mir im Supermarkt in Druskininkai. Es war peinlich und nicht von Erfolg gekrönt. Das Mückenmittel ist mal wieder an einem Ort im Supermarkt versteckt, wo ich es niemals alleine gefunden hätte; also gut, daß ich vorbereitet war.

Die Quittung: 20 EUR wärmer und 5kg schwerer. Ich muß wahnsinnig sein. Um das zu verdrängen, ziehe ich mit dem jetzt viel zu schweren Rucksack weiter rein in den Ort und peile den erwähnten Pizzaladen an. Mein Körper hat einfach entschieden, daß das jetzt sein muß. Was drin ist, ist drin. Alter Wandererspruch.

Weiter Richtung Norden, ich pirsche mich an den riesigen Truppenübungsplatz heran, der sich nördlich an Pabradė anschließt. Während der Planungsphase hatte ich schon viel recherchiert, ob ich hier überhaupt durchkommen würde, wo das Sperrgebiet anfängt und wo es aufhört; aber wie immer ist vor Ort dann doch alles anders. Am Ortsausgang hängt eine riesige Übersichtskarte mit irgendwelchen Grenzen und Zonen, die ich nicht identifizieren kann. Die aber auf jeden Fall voll da sind, wo ich eigentlich langlaufen möchte.

Verflucht, egal, ich mache erstmal einen kleinen Schlenker und vermeide die ersten Kilometer in der Zone. Diverse Schilder mit „Stop“ und rot-weiße Markierungspfosten ignoriere ich mal geflissentlich, denn ich kann ja im Zweifelsfall leider kein Litauisch. Wird schon gutgehen, ich werde versuchen, mich so weit wie möglich im Randbereich des Truppenübungsplatzes zu halten. Geht auch nicht anders, denn wenn mich irgendeine Patrouille des Platzes verweisen würde, dann müsste ich Umwege mit +20 oder +25km gehen. Ich möchte das nicht.

Der Wald ist hier nochmal dichter als sonst, die Mücken nochmal erbarmungsloser. Und eigentlich warte ich jeden Moment darauf, daß die Militärpolizei um die Ecke biegt und große Augen macht. Ich peile für heute Abend einen See an, der gerade so an der Grenze des Platzes liegt, da werde ich hoffentlich keine Probleme bekommen...

Eine halbe Stunde vor der Ankunft höre ich dann natürlich das, was ich am meisten gefürchtet habe: Motorengeräusche. Und um die Ecke biegt ein amerikanischer Militärjeep (Humvee, kennt man aus jedem amerikanischen Kriegsfilm), die Insassen gucken erstaunt – grüßen aber nur freundlich und fahren weiter. Später am Abend übersetze ich nochmal detailliert die Fotos von der Übersichtskarte des Truppenübungsplatzes: Offensichtlich war ich den ganze Zeit nur in der äußeren Pufferzone unterwegs, die man problemlos betreten darf. Die ganze Panik war also umsonst...

Meine Zeltwiese für heute Abend gehört eigentlich den Anglern, wie der Müll an allen Ecken verrät. Die Aussicht auf den See ist schick, das Wasser allerdings sumpfig und leicht kloakig. Zu einem abendlichen Bad kann ich mich nicht aufraffen. Ein paar Angler kommen, angeln, gehen, ich schlüpfe irgendwann in meinen Schlafsack und melde mich ab.


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