Dienstag, 18. Juli 2023

Tag 47: Fertig.

Dienstag, 11.07.2023
Morgens 13°, Nac
hmittags 20°; sonnig
2,5h mit Pausen
10km

Tallinn-Tondi nach Ostseestrand...

Heute also der Gipfel der Absurdität. Ein kleiner Spaziergang von Tallinn-Südwest nach Tallin-Nordost, damit ich dort an einem Ostseestrand ankomme. Und dann bin ich fertig. Fühlt sich natürlich total komisch an, weil ich ja schon in Tallinn bin, gestern habe ich das Ortsschild fotografiert.

Aber da fehlt halt noch ein Stück. Ich wollte nicht nur den Stadtrand von Tallinn erreichen, sondern das Meer. Also wandere ich heute nochmal 10km durch die Stadt. Gestern hätte ich das nicht mehr zusätzlich geschafft...

Mir ist also von Anfang an klar, wie absurd der Tag heute ist. Aber er muß sein. Also packe ich meinen Rucksack wieder komplett zusammen. Die letzte Etappe nehme ich auf jeden Fall mit all meinen Habseligkeiten. Raus aus dem Hotel, quer über den Kreisverkehr und dann rechts in die erstbeste Wohnstraße, Richtung Altstadt.


Die Wohnviertel sind eine Mischung aus alten Holzhäusern, mittelalten Steinbauten aus weißen sowjetischen Ziegeln, halbmodernen Kreationen aus den 90er und 2000er Jahren, und natürlich auch einige architektonische UFOs – Häuser aus Beton und Weiß, mit strengen Kanten und ohne jegliches Geschnörksel. Erstaunlicherweise treffe ich hier auf die erste, letzte, und einzige Hausnummer, die am schon fast vergessenen Hausnummernbingo teilnehmen könnte. Die Nummer 18 ist natürlich schon längst durch. Aber da das hier die einzige richtige Hausnummer auf den ganzen zwei Monaten Tour war, muß sie hier verewigt werden...

Nach der Wohnsiedlung umrunde ich in gleißendem Sonnenschein das Stadion von Tallinn, danach zwei Unterführungen, die in aberwitzigem Format zwei Bahnstrecken unterqueren. Halb geduckt, halb kriechend dürfen sich die Fußgänger hier durchquetschen.


Die Stadt ist erstaunlich leer. Auf den Straßen der Wohnviertel kaum fahrende oder parkende Autos, noch weniger Passanten. Vielleicht liegt es an der Mittagszeit, vielleicht an den Sommerferien. Aber die Leere ist auffällig. Ich murkse mich auf Schleichwegen durch das Ministeriums- und Botschaftsviertel, majestätische alte Häuser und neue Monolithe aus Glas und Beton. Kleine Trampelpfade zwischen Parkplatz und Hinterhof führen mich in die richtige Richung, manchmal lande ich im Park, manchmal vor einer Baustelle. Der Weg, den ich mir eigentlich zurecht gelegt hatte, ist hier vollkommen bedeutungslos. Die grobe Richtung zählt.
 

In der Altstadt platzt mir fast der Hut. Der Marktplatz voller Touristengruppen, die Kreuzfahrtschiffe sind in der Stadt. Mehr als für ein schnelles Foto halte ich nicht aus, dann weiter, an der Stadtmauer entlang, ich muß hier raus. Ich frage mich angesichts der Menschenmassen kurz ernsthaft, was zur Hölle ich hier eigentlich verloren habe, außer „Dinge abhaken“. 
 
 
Im Park vor dem monströsen Hilton-Hotel mache ich kurz Pause, dahinter beginnt wieder der stille Teil der Stadt. Ein Villenvirtel, viele schöne alte Holzhäuser, liebevoll und teuer restauriert. Hohe Zäune, Einfahrten mit Torantrieben, dahinter hochpreisige Autos.

Die Villen gehen über in eine Parklandschaft, vorbei an Schloß Katharinental, in dem heute ein Kunstmuseum residiert. Und plötzlich sehe ich in der Flucht des Parkallee das Russalka-Denkmal. Mein Ziel. Direkt an der Ostsee. Ich kann mir das Grinsen nicht aus dem Gesicht wischen, als ich auf die Granitsäule zulaufe.


Noch eine großer Zebrastreifen, kann sehe ich den Strand. Ich steige ungeduldig über die Möblierung der Strandpromenade, stört jetzt alles nur. Mit Wanderstiefel an den Füßen laufe ich über den Strand, werfe den Rucksack ab, setze mich in den Sand und muß erstmal gucken. Das Meer. Die Ostsee. Fertig Wahnsinn.

Ich ziehe die Stiefel und meine Klamotten aus, ich muß ins Wasser. Baden ist hier zwar eigentlich verboten, aber wenn die Oma da vorne links das kann, kann ich das auch. Das Ufer ist ewig flach, irgendwo weiter draußen brechen sich die Wellen. Ich gehe so weit, daß ich wenigstens bis zur Hüfte im Wasser stehe, tauche prustend unter und gucke zurück zum Strand. Da liegt alles, was ich zurückgelassen habe.


Ich sitze noch lange am Strand und trockne in der Sonne. Ich betrachte die Sohlen meiner Stiefel: Fast abgelaufen. Ok, ihr seid auch reif für den Ruhestand... Im Hafen von Tallinn laufen die Kreuzfahrtschiffe ein und aus. Und ich bin fertig. 1.135km in zwei Monaten. Ganz still mache ich mich auf den Weg in die Innenstadt, um mein Apartment für die nächsten Tage zu beziehen. Ich bleibe etwas in Tallinn, dann besuche ich noch Helsinki und in ungefähr einer Woche fliege ich zurück nach Berlin.

Ein Fazit kann ich von dieser Reise noch nicht ziehen, es ist alles noch zu frisch. Ich freue mich auf ein paar Tage auf dem Balkon und auf Faulenzen zwischen Couch, Kühlschrank und Bett. Die verdammten kleinen Dinge eben. Aber eines ist klar: Das Baltikum ist mir in den letzten Wochen nur noch mehr ans Herz gewachsen.

Montag, 17. Juli 2023

Tag 46: In Transit. Bis an die Stadtgrenze von Tallinn.

Montag, 10.07.2023
Morgens 11°, Nac
hmittags 19°; sonnig, einzelne Wolken
9h mit Pausen, 7h reine Laufzeit
32km

Vaida (Bushaltestelle) nach Tallinn-Tondi

Ok. Verdammt. Den Trek wieder zurück nach Vaida habe ich schwer unterschätzt. Taxi ins Zentrum von Tallinn, den richtigen Bus erwischen, mit vorbildlichem Estnisch ein Ticket kaufen. Alles kein Problem. Aber irgendwie wäre ich lieber etwas länger im Bett liegen geblieben. Der Tag wird lang werden... Immerhin habe ich einen Teil meines Gepäcks im Hotel gelassen, also ist der Rucksack merklich leichter. Ist das jetzt Premiumwandern?

Beim Blick auf die Karte heute früh deutete sich schon an, daß ich mir mit dem kurzfristigen Umwerfen der Route vielleicht nicht an allen Fronten einen Gefallen getan habe. Klar, ich konnte letzte Nacht in einem richtigen Bett schlafen. Bezahlen werde ich das heute damit, daß ich heute im Wesentlichen neben der Autonbahn oder auf der Landstraße laufen darf. Aber wer den Teppich gekauft hat, muß den Teppich auch mitnehmen.

In den nächsten Dörfern macht sich ganz klar schon die Nähe zu Hauptstadt und Autobahn bemerkbar. Austauschbare Speckgürtel-Häuser, der Rasen im Garten ordentlich gestutzt, Platz für mindestens zwei Autos in der Einfahrt. Irgendwo auf dem Feld schließe ich wieder an meinen ursprünglichen Weg an, danach wird’s besser. In Kiili schnell ein Eis aus dem Maxima, durch den Kulturtunnel unter der Autobahn durch. 

 

Links sehe ich schon den IKEA. Ein international untrügliches Zeichen, daß wir in der Nähe des Stadtrandes sind. Ich stehe gefühlt auf der Grenze zwischen Stadt und Land. Links Getreidefeld und Wald, rechts Speditionen, Autobahn und Logistikflächen. Ich habe keine Wahl, weiter geht’s.


 Ein letztes Mal lande ich in einer Sackgasse, der schöne kleine Weg auf der Karte endet am Hoftor eines Bauernhofes. Also zurück und einen furchtlosen Umweg über die Landstraße. Ironie des Schicksals: Wenigstens gibt es hier einen Fahrradweg und ich muß nicht auf dem Autobahnzubringer laufen. Trotzdem nutze ich die erstbeste Gelegenheit, um in den Wald abzubiegen und mich unter einer Hochspannungsleitung zur Mittagspause hinzuwerfen.


Der Wald am Stradtrand von Tallinn hat viele kleine Trampelpfade, kreuz und quer in alle Himmelsrichtungen. Ich kann das GPS-Gerät einfach in der Hosentasche lassen und mir einen Pfad nach Richtung auswählen. Wird schon klappen. Nebenbei trete ich beinahe auf eine Kreuzotter, die sich gerade auf dem Weg sonnt. Leicht erschrocken trennen wir uns beide wieder und sind wahrscheinlich beide froh, daß nix passiert ist.

Ich mache einen kleinen Schlenker nach Westen zur großen Ausfallstraße, da müsste am Stadtrand doch sicher ein schickes Schild stehen. Pflichtfoto, würde ich sagen. Und dann werfe ich meinen viel zu leichten Rucksack unter das Tallinn-Schild, mache ein paar Bilder und sitze grinsend neben dem brausenden Autobahnzubringer. Geil!

Die nächsten zwei Stunden taste ich mich langsam in die Stadt vor, immer entlang des riesigen eingezäunten Trinkwasser-Sees, der im Südosten von Tallinn liegt und die Stadt mit Wasser versorgt. Ich sehe Discgolfer, Jogger, allerlei Naherholende mit und ohne Equipment. Die ersten Hochhäuser spitzen hinter den Bäumen hervor und ich kann es nicht länger wegschieben. Hier riecht alles nach Stadt.

Als ich mich so weit wie möglich durch Wälder und Parks an die Stadt herangearbeitet habe, überquere ich eine gigantische von Hochhäusern umstellte Kreuzung ohne Fußgängerüberwege, finde eine kleine Brücke über die Bahnlinie und plötzlich stehe ich auf der Rückseite meines Hotels von gestern.

Ein seltsamer Tag. Lang, ätzend, und ohne echten Abschluß. Der eigentliche Höhepunkt kommt morgen, wenn ich durch die Innenstadt zur Ostsee laufe. Dann bin ich fertig. Heute bin ich irgendwie noch im Transit, wie der Großteil der Landschaft, die ich heute durchlaufen habe.

Ich esse ein Fastfood-Abendessen, mache nochmal einen Schlenker durch den viel zu großen Supermarkt und weiß: Morgen.

Sonntag, 16. Juli 2023

Tag 45: Neben der Autobahn.

Sonntag, 09.07.2023
Morgens 13°, Nac
hmittags 17°; bedeckt, Schauer
7,5h mit Pausen, 5h reine Laufzeit
25km

Ravila nach Vaida (Bushaltestelle)

Hatte ich gestern erwähnt, daß das Herrenhaus liebevoll chaotisch ist? Beim Frühstück bricht das Chaos dann endgültig aus. Scheinbar kommen alle Übernachtungsgäste gleichzeitig zum Frühstücken und alle zweieinhalb Tische sind schnell besetzt. Die Familie mit 4 Kindern kriegt dann halt eben mal das Frühstück auf's Zimmer. Mir ist das natürlich nach all den Tagen alleine im Wald alles viel zu voll und viel zu hektisch, also picke ich nur ein bißchen am hartgekochten Ei, esse ein paar Tomatenscheiben und zwei Scheiben Brot, dann will ich los.


Bis zum nächsten Ort Kose gibt es erstmal einen Radweg neben der Landstraße, dann eine schöne ruhige grüne Wohnstraße, im Laden neben der Bushaltestelle schnell ein Eis, dann … muß ich aber die Nase rümpfen. Ausfallstraße, Radweg, ohne Ende Strommasten, Gewerbegebiete. Die Infrastruktur schiebt sich ins Bild. Die letzten Wochen über war die einzige Infrastruktur weit und breit oft der Weg oder die Forststraße, auf der ich gerade entlang ging. Jetzt ist plötzlich die ganze Bühne des Horizontes voll damit. 


Ich habe gestern Abend und heute früh radikal die Planung für heute und morgen umgeworfen. Am Anfang stand der Entschluß, daß ich heute Abend keinen Bock auf Zelten haben werde. Das Wetter ist meh, die Wiesen sind naß. Und der einzig erreichbare RMK-Rastplatz ist - den Fotos im Netz nach zu urteilen - eine überwucherte Waldlichtung mit brusthohem Gras, einer verfallenen Hütte und sonst nüscht. Also werde ich statt dessen später am Nachmittag mal wieder eine dieser ätzenden Bus-Rochaden machen, um ein ordentliches Dach über dem Kopf zu haben.


Weil ich meine Pappenheimer hier im Baltikum inzwischen kenne, verzichte ich spontan darauf, den romantischen kleinen Trampelpfad durch die Flußaue zu nehmen. Wahrscheinlich hätte ich ihn nicht einmal gefunden. Parallel gibt es noch eine klassische Forststraße, aber bei der weiß ich wenigstens, daß ich am Ende auch ankommen werde. Ich schlage mich durch die üblichen Regenschauer und Fliegenschwärme, mache kurz an einem Hochsitz Pause, und stoße bald wieder auf die Autobahn, die ich gestern überquert hatte.

 
Hier beginnt der harte Teil: Viele Kilometer direkt neben der Autobahn auf einer kleinen Zugangsstraße. Viel Verkehr ist hier nicht, aber ich habe trotzdem immer die auf der Autobahn vorbeizischenden Autos im Blick und im Nacken. Natürlich naht noch ein Regenschauer, so schnell und heftig, daß ich den Regenschirm erst aufgespannt in der Hand habe, als es eigentlich schon zu spät ist. Die letzten 6 Kilometer sind dann endgültig doof, auf der Landstraße bis nach Vaida, immer schön hart gegen den Verkehr gesegelt.


Ich warte eine knappe Stunde auf den Bus, zahle zwei Euro irgendwas und schaukele mit dem Bus nach Tallinn hinein. Mir wird massiv schlecht, ich habe mir einen Sitz entgegen der Fahrtrichtung ausgesucht, der Fahrer fährt wie einer Berserker, und ich beschäftige mich wie ein Jugendlicher ständig mit dem Handy. Am Ende bin ich froh, als mich der Bus in Tallinn absetzt und ich nur noch eine kleine Etappe bis zu meinem Hotel habe.

Das Hotel ist etwas gespenstisch. Eine renovierte Ziegelsteinkaserne aus den vermutlich 1800er Jahren. Self-Check-In, Türcode, Zimmercode, kein Mensch hier, keine Rezeption. Als würde ich alleine in diesem Ding sein. Die tiefstehende Sonne sieht auf der Fassade des Hotels super gut aus, der Flur zu den Zimmern ist Bäm!, ich freue mich über eine Dusche und die Tatsache, daß ich mal wieder zwei Tage im selben Bett schlafen kann.

Nebenan im Gewerbegebiet springe ich nochmal schnell in den Supermarkt, so ungefähr der grösste Laden, den ich seit Riga gesehen habe. Leichter Kulturschock. Morgen setze ich mich wieder in den Bus und fahre zurück Vaida, damit alles seine Ornung hat. Aber, wie gesagt: Morgen.

Samstag, 15. Juli 2023

Tag 44: Landstraßen und Landstraßenrestaurants.

Samstag, 08.07.2023
Morgens 12°, Nac
hmittags 19°; wechselhaft, Schauer
7,75h mit Pausen, 5,5h reine Laufzeit
30km

RMK Hirvelaane lõkkekoht nach Ravila

Natürlich hat es heute Nacht geregnet. Natürlich hat es auch den halben Morgen geregnet. Natürlich habe ich mich geärgert, daß ich mein Zelt gestern Abend doch nicht in den Unterstand hineingebaut habe. Denn dann könnte ich jetzt schön die Beine aus dem trockenen Zelt baumeln lassen.


Statt dessen packe ich meinen Kram zusammen, schüttele das Zelt, stelle es in die Sonne, frühstücke einen Apfel, schüttele das Zelt. Immer noch naß, also in den Packsack. Vielleicht finde ich ja irgendwann eine Chance, das Ding zu trocknen. Warum ich mir darüber eigentlich so viele Gedanken mache? Ein Zelt wird doch wohl mal naß werden dürfen? Yup, darf es. Durchaus. Aber wenn du es danach mehrere Tage naß im Rucksack mit dir herumschleppst, fängt das Ganze schnell an zu riechen. Und dann schläft es sich echt schlecht darin. Mir ist das vor vielen Jahren mal soweit passiert, daß ein Zelt anfing zu schimmeln, weil ich vergessen hatte, es rechtzeitig zu trocknen.

Meine morgendliche Forststraße führt durch lose bebautes Wald- und Weideland. An den verstreuten Häusern werden samstägliche Handwerkungen vorgenommen. Hinter jedem zweiten Auto wird ein Anhänger gezogen. Heute scheint das ländliche Estland wirklich busy zu sein. Ich laufe ein Stück Forststraße entlang und halte besonders gut die Augen offen. Irgendwo hier links im Wald müsste nochmal ein Moor und ein kleiner See sein, einen Trampelpfad müsste es auch geben. Ich muß da gar nicht hin, eigentlich bin ich eher neugierig. Ich hatte mir diesen See als möglichen Notfall-Alternativ-Zeltplatz zu letzter Nacht aufgeschrieben. Aber wenn ich noch nicht mal den Trampelpfad zum See finde, sehe ich wahrscheinlich auch den Wald vor lauter Bäumen nicht.


Also weiter. Heute warten noch viele Straßen auf mich. Meine Wasserflasche ist schon am Vormittag leer getrunken, viel war nach gestern Abend sowieso nicht mehr drin. Aber ich bin entspannt, so richtig Durst habe ich nicht, und zur Not könnte ich an irgendeinem der Häuser hier anklopfen.

Ich laufe ein paar Stunden eine kleine asphaltierte Dorfstraße entlang, irgendwo hier verlasse ich den offiziellen RMK-Wanderweg und peile meine eigene Route nach Norden an. Die kleinen Ansammlungen von Häusern kommen mir seltsam vertraut vor – ich bin diese Strecke wahrscheinlich 4x auf GoogleMaps abgefahren, um zu sehen, ob es hier irgendwo einen Laden oder eine Übernachtungsmöglichkeit gibt. Das Einzige, was da kommt: Hinter der Autobahn gibt es ein Landstraßenrestaurant. Das peile ich heute auf jeden Fall an.



Die kleine Dorfstraße mündet in eine breite, grob geteerte Landstraße. Meine Motivation wankt, ich packe mir die Kopfhörer in die Ohren und mache Musik an, schalte auf Durchhaltemodus. Der Wind pfeift über die Felder, die Sonne glänzt auf dem regennassen Asphalt, ich ziehe zügigen Schrittes über die Landstraße und: will. was. essen. Und trinken. Der Gedanke an meine erste warme Mahlzeit und ein kühles Getränk seit Tagen schieben alles andere weit weg.

Dann die Autobahn, eine riesige Schneise im gleißenden Sonnenlicht. Verkehr! Wahnsinn... Dahinter das nächste Straßenschild: Tallinn 42km. Auch Wahnsinn. Ich brauche dringend was zu Essen.


Das Landstraßenrestaurant ist an diesem Samstagnachmittag genau so, wie ich es mir vorgestellt habe. Vor einem romantisierten Holzhaus aus Blockbohlen ein großer Parkplatz, Sonnenschirme, Tische, mittelalte Ehepaare bei der Pause auf der Fahrt von Tartu nach Tallinn, es wird zu Nachmittag gegessen. Ich entere den Laden, bestelle den brandenburgischen Klassiker Soljanka-Schnitzel-Pommes, dazu ein Bier und zwei Cola. Immer daran denken: Genug Flüssigkeit zu sich nehmen!

Eine Stunde später wanke ich total vollgefressen, glücklich und vollkommen erledigt wieder zurück auf die Landstraße. In meiner Schnitzelseeligkeit habe ich vergessen, daß nach der Nahrungsausnahme noch eine gute Stunde Weg vor mir liegt.

 Auch dagegen hilft wieder nur Musik. Ich ziehe die nächste kleine Landstraße entlang, wieder sieht der Himmel aus wie eine einzige Drohung in Blau und Grau. Noch ein paar Häuser, dann komme ich nach Ravila, ein kleines Dorf östlich von Kose. Es besteht im Wesentlichen aus dem alten Herrenhaus und dem dazugehörigen Gutshof. Die meisten Gebäude des Gutshofes sind  längst verfallen und überwuchert, viele Häuser im Dorf stehen leer. Nur ein Ziegelsteingebäude wurde kürzlich saniert. Ich stehe staunend neben der Baustelle und betrachte eine außergewöhnliche Kombination aus alter Ziegelfassade und modernem Anbau. Sowas sieht man hier selten. Eigentlich … nie.

Das Herrenhaus in der Mitte des Dorfes vermietet Zimmer. Mich erwartet ein herrliches Chaos wie zu Jugendherbergstagen. Morgen gibt es Frühstück, heute einen Kühlschrank mit kalten Getränken. Der Inhaber ist ein freundlicher Typ, leicht verhuscht und chaotisch. Aber bei den 3000 Baustellen, die dieses riesige Anwesen so bereithält, wundert mich das nicht. Er zeigt mir mein Zimmer (Ostflügel), das auch aussieht wie in einer Jugendherberge. Dann laufen wir einmal quer durch tausend Gänge und zwei Treppen, zur Dusche. Im Westflügel, links hinter dem Anbau. Ich gebe  sofort auf, dieses Haus und alle seine Ecken und Winkel verstehen zu wollen. Einfach nur merken: Hier Zimmer, da Dusche, dort Frühstücksraum.

Ich stelle die Stiefel nach draußen auf das Fensterbrett, der Abend ist schnell rum.