Samstag,
08.07.2023
Morgens 12°, Nachmittags
19°; wechselhaft, Schauer
7,75h mit Pausen, 5,5h reine
Laufzeit
30km
RMK
Hirvelaane lõkkekoht nach Ravila
Natürlich hat es heute Nacht geregnet. Natürlich hat es auch den halben Morgen geregnet. Natürlich habe ich mich geärgert, daß ich mein Zelt gestern Abend doch nicht in den Unterstand hineingebaut habe. Denn dann könnte ich jetzt schön die Beine aus dem trockenen Zelt baumeln lassen.
Meine morgendliche Forststraße führt durch lose bebautes Wald- und Weideland. An den verstreuten Häusern werden samstägliche Handwerkungen vorgenommen. Hinter jedem zweiten Auto wird ein Anhänger gezogen. Heute scheint das ländliche Estland wirklich busy zu sein. Ich laufe ein Stück Forststraße entlang und halte besonders gut die Augen offen. Irgendwo hier links im Wald müsste nochmal ein Moor und ein kleiner See sein, einen Trampelpfad müsste es auch geben. Ich muß da gar nicht hin, eigentlich bin ich eher neugierig. Ich hatte mir diesen See als möglichen Notfall-Alternativ-Zeltplatz zu letzter Nacht aufgeschrieben. Aber wenn ich noch nicht mal den Trampelpfad zum See finde, sehe ich wahrscheinlich auch den Wald vor lauter Bäumen nicht.
Ich laufe ein paar Stunden eine kleine asphaltierte Dorfstraße entlang, irgendwo hier verlasse ich den offiziellen RMK-Wanderweg und peile meine eigene Route nach Norden an. Die kleinen Ansammlungen von Häusern kommen mir seltsam vertraut vor – ich bin diese Strecke wahrscheinlich 4x auf GoogleMaps abgefahren, um zu sehen, ob es hier irgendwo einen Laden oder eine Übernachtungsmöglichkeit gibt. Das Einzige, was da kommt: Hinter der Autobahn gibt es ein Landstraßenrestaurant. Das peile ich heute auf jeden Fall an.
Dann die Autobahn, eine riesige Schneise im gleißenden Sonnenlicht. Verkehr! Wahnsinn... Dahinter das nächste Straßenschild: Tallinn 42km. Auch Wahnsinn. Ich brauche dringend was zu Essen.
Eine Stunde später wanke ich total vollgefressen, glücklich und vollkommen erledigt wieder zurück auf die Landstraße. In meiner Schnitzelseeligkeit habe ich vergessen, daß nach der Nahrungsausnahme noch eine gute Stunde Weg vor mir liegt.
Auch dagegen hilft wieder nur Musik. Ich ziehe die nächste kleine Landstraße entlang, wieder sieht der Himmel aus wie eine einzige Drohung in Blau und Grau. Noch ein paar Häuser, dann komme ich nach Ravila, ein kleines Dorf östlich von Kose. Es besteht im Wesentlichen aus dem alten Herrenhaus und dem dazugehörigen Gutshof. Die meisten Gebäude des Gutshofes sind längst verfallen und überwuchert, viele Häuser im Dorf stehen leer. Nur ein Ziegelsteingebäude wurde kürzlich saniert. Ich stehe staunend neben der Baustelle und betrachte eine außergewöhnliche Kombination aus alter Ziegelfassade und modernem Anbau. Sowas sieht man hier selten. Eigentlich … nie.
Das Herrenhaus in der Mitte des Dorfes vermietet Zimmer. Mich erwartet ein herrliches Chaos wie zu Jugendherbergstagen. Morgen gibt es Frühstück, heute einen Kühlschrank mit kalten Getränken. Der Inhaber ist ein freundlicher Typ, leicht verhuscht und chaotisch. Aber bei den 3000 Baustellen, die dieses riesige Anwesen so bereithält, wundert mich das nicht. Er zeigt mir mein Zimmer (Ostflügel), das auch aussieht wie in einer Jugendherberge. Dann laufen wir einmal quer durch tausend Gänge und zwei Treppen, zur Dusche. Im Westflügel, links hinter dem Anbau. Ich gebe sofort auf, dieses Haus und alle seine Ecken und Winkel verstehen zu wollen. Einfach nur merken: Hier Zimmer, da Dusche, dort Frühstücksraum.
Ich stelle die Stiefel nach draußen auf das Fensterbrett, der Abend ist schnell rum.
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