Samstag, 15. Juli 2023

Tag 44: Landstraßen und Landstraßenrestaurants.

Samstag, 08.07.2023
Morgens 12°, Nac
hmittags 19°; wechselhaft, Schauer
7,75h mit Pausen, 5,5h reine Laufzeit
30km

RMK Hirvelaane lõkkekoht nach Ravila

Natürlich hat es heute Nacht geregnet. Natürlich hat es auch den halben Morgen geregnet. Natürlich habe ich mich geärgert, daß ich mein Zelt gestern Abend doch nicht in den Unterstand hineingebaut habe. Denn dann könnte ich jetzt schön die Beine aus dem trockenen Zelt baumeln lassen.


Statt dessen packe ich meinen Kram zusammen, schüttele das Zelt, stelle es in die Sonne, frühstücke einen Apfel, schüttele das Zelt. Immer noch naß, also in den Packsack. Vielleicht finde ich ja irgendwann eine Chance, das Ding zu trocknen. Warum ich mir darüber eigentlich so viele Gedanken mache? Ein Zelt wird doch wohl mal naß werden dürfen? Yup, darf es. Durchaus. Aber wenn du es danach mehrere Tage naß im Rucksack mit dir herumschleppst, fängt das Ganze schnell an zu riechen. Und dann schläft es sich echt schlecht darin. Mir ist das vor vielen Jahren mal soweit passiert, daß ein Zelt anfing zu schimmeln, weil ich vergessen hatte, es rechtzeitig zu trocknen.

Meine morgendliche Forststraße führt durch lose bebautes Wald- und Weideland. An den verstreuten Häusern werden samstägliche Handwerkungen vorgenommen. Hinter jedem zweiten Auto wird ein Anhänger gezogen. Heute scheint das ländliche Estland wirklich busy zu sein. Ich laufe ein Stück Forststraße entlang und halte besonders gut die Augen offen. Irgendwo hier links im Wald müsste nochmal ein Moor und ein kleiner See sein, einen Trampelpfad müsste es auch geben. Ich muß da gar nicht hin, eigentlich bin ich eher neugierig. Ich hatte mir diesen See als möglichen Notfall-Alternativ-Zeltplatz zu letzter Nacht aufgeschrieben. Aber wenn ich noch nicht mal den Trampelpfad zum See finde, sehe ich wahrscheinlich auch den Wald vor lauter Bäumen nicht.


Also weiter. Heute warten noch viele Straßen auf mich. Meine Wasserflasche ist schon am Vormittag leer getrunken, viel war nach gestern Abend sowieso nicht mehr drin. Aber ich bin entspannt, so richtig Durst habe ich nicht, und zur Not könnte ich an irgendeinem der Häuser hier anklopfen.

Ich laufe ein paar Stunden eine kleine asphaltierte Dorfstraße entlang, irgendwo hier verlasse ich den offiziellen RMK-Wanderweg und peile meine eigene Route nach Norden an. Die kleinen Ansammlungen von Häusern kommen mir seltsam vertraut vor – ich bin diese Strecke wahrscheinlich 4x auf GoogleMaps abgefahren, um zu sehen, ob es hier irgendwo einen Laden oder eine Übernachtungsmöglichkeit gibt. Das Einzige, was da kommt: Hinter der Autobahn gibt es ein Landstraßenrestaurant. Das peile ich heute auf jeden Fall an.



Die kleine Dorfstraße mündet in eine breite, grob geteerte Landstraße. Meine Motivation wankt, ich packe mir die Kopfhörer in die Ohren und mache Musik an, schalte auf Durchhaltemodus. Der Wind pfeift über die Felder, die Sonne glänzt auf dem regennassen Asphalt, ich ziehe zügigen Schrittes über die Landstraße und: will. was. essen. Und trinken. Der Gedanke an meine erste warme Mahlzeit und ein kühles Getränk seit Tagen schieben alles andere weit weg.

Dann die Autobahn, eine riesige Schneise im gleißenden Sonnenlicht. Verkehr! Wahnsinn... Dahinter das nächste Straßenschild: Tallinn 42km. Auch Wahnsinn. Ich brauche dringend was zu Essen.


Das Landstraßenrestaurant ist an diesem Samstagnachmittag genau so, wie ich es mir vorgestellt habe. Vor einem romantisierten Holzhaus aus Blockbohlen ein großer Parkplatz, Sonnenschirme, Tische, mittelalte Ehepaare bei der Pause auf der Fahrt von Tartu nach Tallinn, es wird zu Nachmittag gegessen. Ich entere den Laden, bestelle den brandenburgischen Klassiker Soljanka-Schnitzel-Pommes, dazu ein Bier und zwei Cola. Immer daran denken: Genug Flüssigkeit zu sich nehmen!

Eine Stunde später wanke ich total vollgefressen, glücklich und vollkommen erledigt wieder zurück auf die Landstraße. In meiner Schnitzelseeligkeit habe ich vergessen, daß nach der Nahrungsausnahme noch eine gute Stunde Weg vor mir liegt.

 Auch dagegen hilft wieder nur Musik. Ich ziehe die nächste kleine Landstraße entlang, wieder sieht der Himmel aus wie eine einzige Drohung in Blau und Grau. Noch ein paar Häuser, dann komme ich nach Ravila, ein kleines Dorf östlich von Kose. Es besteht im Wesentlichen aus dem alten Herrenhaus und dem dazugehörigen Gutshof. Die meisten Gebäude des Gutshofes sind  längst verfallen und überwuchert, viele Häuser im Dorf stehen leer. Nur ein Ziegelsteingebäude wurde kürzlich saniert. Ich stehe staunend neben der Baustelle und betrachte eine außergewöhnliche Kombination aus alter Ziegelfassade und modernem Anbau. Sowas sieht man hier selten. Eigentlich … nie.

Das Herrenhaus in der Mitte des Dorfes vermietet Zimmer. Mich erwartet ein herrliches Chaos wie zu Jugendherbergstagen. Morgen gibt es Frühstück, heute einen Kühlschrank mit kalten Getränken. Der Inhaber ist ein freundlicher Typ, leicht verhuscht und chaotisch. Aber bei den 3000 Baustellen, die dieses riesige Anwesen so bereithält, wundert mich das nicht. Er zeigt mir mein Zimmer (Ostflügel), das auch aussieht wie in einer Jugendherberge. Dann laufen wir einmal quer durch tausend Gänge und zwei Treppen, zur Dusche. Im Westflügel, links hinter dem Anbau. Ich gebe  sofort auf, dieses Haus und alle seine Ecken und Winkel verstehen zu wollen. Einfach nur merken: Hier Zimmer, da Dusche, dort Frühstücksraum.

Ich stelle die Stiefel nach draußen auf das Fensterbrett, der Abend ist schnell rum.


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