Donnerstag, 13. Juli 2023

Tag 42: Iiih, da sind Leute!

Donnerstag, 06.07.2023
Morgens 8°, Nachmittags 20°; bewölkt, Schauer
10h mit Pausen,
6h reine Laufzeit
28km

Lokuta Puhkekeskus (Gästehaus) nach
RMK Loosalu lõkkekoht

Am nächsten Morgen ist das gelbe Gästehaus schon wieder leer. Der andere Gast ist schon weg, ich habe sonst keine Menschenseele gesehen. Ich lasse liebevoll 25 EUR auf dem Nachttisch liegen und mache mich auf den Weg. Der Laden unten im Erdgeschoß macht leider erst in einer knappen Stunde auf, so lange mag ich nicht warten. In ein paar Stunden komme ich sowieso nochmal an einem Laden vorbei...

Ein paar Kilometer weiter liegt der nächste RMK-Rastplatz im Wald (Tillniidu lõkkekoht), von der Kilometerzählung her müsste ich dort eigentlich die 1.000km voll machen. Ich setze mich erstmal entspannt zur Frühstückspause hin, kurz darauf parkt ein Auto neben mir und ich komme mit dem Fahrer ins Gespräch. Er warnt mich vor, daß das estnische Militär gerade in dieser Gegend trainiert und an einigen Stellen auf den Forstwegen Straßensperren errichtet hat. Ich solle mich also nicht wundern, wenn plötzlich Herren in Tarnklamotten und mit Gewehren aus dem Unterholz brechen...


Als ich eine halbe Stunde später weiterziehe, wird mir klar, daß ich durch die Plauderei total vergessen habe, beim RMK-Rastplatz ein passendes 1000km-Siegesfoto aufzunehmen. Für meinen Instagram-Account, den es gar nicht gibt. Drehe ich jetzt deswegen um? Nein. Mache ich jetzt irgendein doofes Foto hier mitten auf dem Waldweg? Auch nein. Was soll der Zauber. Ich weiß doch, was ich hier mache.

Besser, ich kümmere mich mal schnell darum, den Regenschirm aus dem Rucksack herauszufummeln. Der nächste Schauer rückt an.

Frisch geduscht marschiere ich kurz vor dem nächsten Dorf Lelle auf die Kreuzung mit der großen Landstraße zu. Da steht breit und stabil ein Schild: Tallinn 75km. Das ist... nicht weit. Das sind... 3 Tage, wenn ich ein Auto wäre? Grinsend ziehe ich hinüber ins Dorf und suche nach dem winzigen Laden, der sich hier in Lelle auf 50 Quadratmeter irgendwo in der 2. Reihe im Dorf verstecken soll. Und trotzdem alles hat, was ich suche.


Als ich mit meinem Eis wieder hinaustrete, beginnt gerade der Regen. Och menno... Ich straffe meine Schritte und gehe rüber zum Bahnhof. Da gibt es immer einen trockenen Platz, ich würde jetzt gerne Mittagspause machen. Und am Bahnhof gibt es sogar zwei trockene Plätze: Den Fahrradschuppen und ein Wartehäuschen mit Bank. Ein älterer Herr spricht mich auf Estnisch an und versucht, irgendwas zu fragen oder zu erklären... Ich weiß es nicht. Kurz darauf habe ich es verstanden: Er wollte mir erklären, daß von diesem Gleis keine Züge abfahren, sondern einen Bahnsteig weiter. In kurzer Folge halten dort zwei Züge, nach Tallinn und aus Tallinn. Ich lasse sie ziehen, auch wenn der Gedanke, daß ich da jetzt einfach hätte einsteigen können, an diesem regnerischen Tag ganz schön verführerisch ist.

Ich dehne meine Mittagspause auf locker 1,5 Stunden aus un sitze ein wenig lustlos im Wartehäuschen herum. Im Juli, bei 16 Grad und Dauerregen. So richtig Block auf Weitergehen habe ich nicht, vielleicht kann ich wenigstens eine kleine Lücke im Regen abwarten. Und siehe da, irgendwann geht’s, ich schultere meinen Rucksack und ziehe weiter nach Nordwesten.

Ein paar Kilometer weiter stolpere ich über ein kleines Skigebiet. Hänge! Hügel! Gipfel! Auf dem riesigen Parkplatz leuchtet einsam ein Kaffeeautomat gegen die Tristesse des Nachmittags an. Hilft auch nicht viel. Ich prüfe nochmal den Sitz der Picknickbänke unten am Teich, und als ich mich davon überzeugt habe, daß man auch hier gut rasten kann, mache ich mich auf den Weg zum eigentlichen Highlight des Tages.


Drüben im Wald beginnt das nächste Sumpfgebie (Loosalu), ich lege schonmal vorsichtshalber eine weitere Schicht Mückenmittel nach. Der Weg führt über nasse Wiesen und wird immer enger, die klassischen Planken übernehmen bald den festen Untergrund. Ich treffe auf vier Jungs aus Belgien, die ersten richtigen Wanderer mit ordentlichem Gepäck auf dieser Reise. Sie sind unterwegs nach Viljandi, aus der Ecke komme ich gerade. Wir plaudern ein bißchen, dann ziehen wir weiter.


Wieder öffnet das Moor unverhofft die Landschaft, außer dem schmalen Band aus Holzplanken weit und breit nur weicher Boden und stehendes Wasser. Der Himmel ist voller Wolken, die Stimmung ganz alleine im Moor ist still und bedrohlich, aber als ich am Ufer des großen Moorsees wieder auf eine Badeplattform mit Leiter stoße, ist es um mich geschehen. Noch gestern habe ich abgestritten, daß ich jemals in dieses pechschwarze Wasser steigen könnte, das aussieht als hätte es keinen Grund und als würden 100 Arme nach dir greifen, sobald du reingestiegen bist.


Heute ist mir klar: Ich muß da rein. Vielleicht ist es die Sirene des Moores, die mich dazu betört hat, aber ich werfe Rucksack und Klamotten ab und steige vorsichtig in die schwarze Brühe hinab. Es ist ungewohnt, in solch dunklem Wasser zu schwimmen, schon nach 20cm unter Wasser sehe ich meine Hand nicht mehr. Ich schwimme ein paar Züge, es fühlt sich seidig und wild an, als würden 100 Feen meine Haut streicheln. Der Wind fegt über den See, ich bin total alleine weit und breit. Herrlich.

 

Als ich mich gerade wieder anziehe, kommt der Regen. Diesmal aber richtig. Ich verfolge erst noch die absurde Idee, mich vielleicht unter meinem Regenschirm zu verkriechen, aber das Einzige was hier hilft, ist: Schnell anziehen, Regenjacke, Regenschirm, und weiter.

Noch eine halbe Stunde durch das offene Moor. Der Wald sieht aus wie eine bedrohliche Burg, auf die ich über freies Feld zustürmen muß. Aber genauso schnell wie das Moor gekommen ist, drängen sich die ersten Bäume wieder zusammen, noch zehn Minuten durch den Wald, dann komme ich um die Ecke und treffe auf den nächsten RMK-Rastplatz. Und sehe: Rucksäcke. Ein Stückchen weiter im Wald haben sich drei Mädels unter Tarp und Mückennetz verkrümelt, ich grüße freundlich aber unverbindlich in ihre Richtung und komme erstmal an. Der Tag war richtig lang heute.

Ich kann gar nicht glauben, daß ich heute Nacht zum ersten Mal einen Zeltplatz teilen werde, aber igendwie macht es auch Sinn. Der nächste Platz ist nur 18km entfernt. Das ist für eine ordentliche Tagesetappe zu wenig, für „mal schnell noch Weiterlaufen“ aber zu viel. Und dazwischen hatte ich auf der Karte wirklich kaum eine Chance auf einen coolen Platz für ein Zelt gesehen.

Nachdem ich einen kurzen Snack eingeworfen habe, gehe ich kurz rüber und sage bei den Damen Hallo. Surprise, sie kommen aus Niedersachsen. Ich kläre kurz ab, wo ich mein Zelt aufbaue, dann lege ich auch schon los. Die Menge an Mücken und Fliegen an diesem Ort ist schier unbeschreiblich. Keine Ahnung, ob das damit zu tun hat, daß wir hier so nah am Moor sind, oder eher mit der Luftfeuchtigkeit und dem Regen. Vielleicht auch beides. Egal. Ich baue schnellstens das Zelt auf und verlege die restliche Häuslichkeit mal dringend nach drinnen.

Die Mädels singen 20 Meter mit glockenheller Stimme christliche Lieder, dazu schallt die Gitarre. Was für eine absurde Situation. Wochenlang keine Wanderer, und plötzlich: gleich 7 Stück an einem Tag. Und - wie mir siedendheiß wieder einfällt! - keine einzige Straßensperre des estnischen Militärs!

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