Mittwoch, 12. Juli 2023

Tag 41: "You are a free man."

Mittwoch, 05.07.2023
Morgens 12°, Nachmittags 18°; bewölkt, windig, Schauer
8h mit Pausen, 5h reine Laufzeit
23km
Vändra nach Lokuta Puhkekeskus (Gästehaus)

Der Tag beginnt natürlich – wie alle letzten Tage – mit einem mißtrauischen Blick gen Himmel. Die Wolken sind immer noch da, der Wind auch, also alles vollkommen unberechenbar. Ich packe meine Sachen zusammen, fülle drüben im Haupthaus nochmal meine Wasserflaschen auf und als ich noch einen Moment draußen sitze, treffe ich nochmal auf den Gastgeber und wir plaudern ein bißchen über meine Reise. In diesem Gespräch sagt er einen Satz, der mich heute noch den ganzen Tag beschäftigen wird: „You are a free man.“ Oh ja. Wie recht er damit hat. Und wie wenig bewußt mir das manchmal ist...

Ich mogele mich durch die kleinen Straßen von Vändra, an Kirche und Friedhof vorbei, zwischen Schule und Stadion hindurch, über eine kleine Brücke. Der Bach darunter hat offensichtlich nicht viel von den Regenfällen der letzten Tage abbekommen. Da herrscht immer noch Ebbe. Noch ein Sägewerk, dann das Ortsende, schnell die Nationalstraße 5 überquert und auf die erste Schotterstraße abbiegen. Aaaaaah, durchatmen.

Die Schnitzelkneipe von vorgestern. Keine Fenster.


Hier auf dem Feld sieht der Himmel nochmal bedrohlicher und dunkler aus als drüben im Ort. Ich nehme mir vor, meine Nerven zu schonen und einfach mal davon auszugehen, daß ich heute sowieso naß werde – auch wenn gerade die Sonne scheint. Das kann einfach nicht halten. Die erste Frühstückspause nach zwei Stunden feiere ich auf einem kleinen Rasenstück mitten auf einer Wegkreuzung. Ein klappriger Citroen Kastenwagen kommt angefahren, parkt, telefoniert, fährt wieder zurück. Wahrscheinlich kein Netz im Wald. Ich spüre die ersten Regentropfen. Aber nur fünf, dann ist wieder Ruhe.


Eine halbe Stunde später, dann aber richtig. Der Regenschirm war gerade so griffbereit genug, um das Schlimmste zu verhindern, denn der Schauer kam schnell und heftig, mit drehendem Wind mal von rechts, mal von links. Ich ziehe das Tempo an, um weg vom freien Feld wenigstens in den Windschatten der Bäume zu kommen, und als ich da bin, ist der Spuk auch schon wieder vorbei. 6 Minuten. Es wird der einzige Schauer für heute bleiben, trotz aller farblichen Bedrohungen vom Himmel.

MIT Regen...

...und 7 Minuten später wieder ohne.

Ehrlich gesagt laufe ich heute schon wieder auf Forststraßen, aber irgendwie habe ich das Hirn ausgeschaltet. Stört mich also heute auch nicht. Und mit der Mittagspause beginnt das Highlight. Ich setze mich zum Picknick auf den RMK-Zeltplatz Mukri lõkkekoht, der eher ein rumpeliger Waldparkplatz ist als ein Zeltplatz. Aber von hier startet der Weg durch das Sumpfgebiet nebenan, der Mukri loodusraja. Der Weg führt durch ein kleines Waldstück, dann öffnet sich der Blick auf ein riesiges Sumpfgebiet mit einzelnen Teichen, weitläufigen Wiesen und einzelnen verkrüppelten Bäumen. Bis zum Horizont nahezu unpassierbar. Holzbalken sind als Wege ausgelegt, und über allem dröhnt der Wind ungehindert hinweg. Ich komme aus dem Gucken und Fotografieren gar nicht mehr heraus.


Ein Stückchen weiter ein richtig hoher Aussichtsturm, ich werfe den Rucksack ab und sprinte hoch. Trotz Wind steht das Ding bombenfest und wackelt nicht. Kein Vergleich zu den popeligen lettischen Aussichtstürmen, die wie ein Rattenschwanz im Wind mitsegeln! Die Aussicht ist gigantisch. Aber erstmal muß ich der Schwalbenfamilie zugucken, die ihr Nest kunstvoll direkt unter dem höchsten Punkt des Turmdaches geklebt hat. Alle paar Minuten kommt einer der Elternvögel mit Futter angeflogen, 3 Sekunden vollkommene Aufregung bei den Jungvögeln, dann kehrt wieder Ruhe ein. 

Ich schaue von oben auf die Weiten des Sumpfes, die Wiesen, die Teiche, genieße den Wind und die Tatsache, daß ich das heute an einem Mittwoch alles ganz für mich alleine habe. Weit und breit kein Mensch zu sehen. Ein Stückchen weiter könnte man schwimmen gehen, es gibt eine kleine Plattform am Rand eines Teiches, mit Leiter hinunter ins Wasser. Aber das Wasser ist derart schwarz und undurchsichtig, daß ich mir den Gedanken daran sofort verbiete. Never! Statt dessen treibe ich mich noch eine knappe Stunde auf den Wegen des Sumpfgebiets herum, bevor ich wieder auf der Forststraße stehe.


Hier müsste ich jetzt eigentlich rechts abbiegen und dem RMK-Weg zum nächsten Zeltplatz folgen. Aber ich hatte beim Blick auf die Karte noch eine andere Idee. Wenn ich statt dessen eine 4km-Straßenetappe in Kauf nehme, komme ich nicht nur an einem kleinen Dorfladen vorbei, gleich eine Tür weiter gibt es anscheinend auch noch ein Gästehaus. Da ich keine Ahnung habe, welches Los das Wetter heute Abend noch so für mich parat hat, will ich es zumindest mal probieren. Ein Dach über dem Kopf ist immer gut. Und wenn es nicht klappt, kann ich immer noch zum nächsten RMK Zeltplatz weiterlaufen und habe noch nicht mal einen Umweg gemacht.


Also ziehe ich entspannt eine überschaubar befahrene Landstraße entlang, schaue mir mal wieder Wind und Wolken über Feldern an, und irgendwann stehe ich vor einem gelben Haus. Erstmal den Laden auschecken. Ein freundliches „Tere!“ an die drei Herren auf der Bank vor dem Haus, die schon ihre Bierflaschen gezückt haben. Ich kaufe mir ein Eis und frage die Frau hinter dem Tresen in meinem unglaublich guten Estnisch nach einem Zimmer. Eine andere Kundin übersetzt via Englisch, die freundliche Dame telefoniert mit den Besitzern des Gästehauses, Zimmer klappt, 25 EUR, hier drüben. Ich kriege fast ein schlechtes Gewissen, weil sie am Ende sogar ihren Laden alleine läßt, um mir das Zimmer einen Eingang weiter zu zeigen, aber am Ende sind alle happy. Ich weil ich ein Dach über dem Kopf und eine Dusche habe, sie weil sie eine gute Tat getan hat und die drei Herren auf der Bank vor dem Laden weil sie ein tolles Männlein-laufen-Schauspiel gesehen haben.


Später am Abend kommt überraschend noch ein weiterer Gast in das riesige leere Gästehaus, das sonst eher für Feiern und Festlichkeiten vermietet wird. Ich rücke meine Sachen zusammen, um etwas Platz in der Sitzgruppe zu machen, aber wir sind uns nicht im Wege. Ich denke noch etwas über die Aussage meines Gastgebers von heute früh nach, den „freien Mann“. Genug Zeit habe ich ja...

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