Mittwoch,
05.07.2023
Morgens 12°, Nachmittags 18°; bewölkt, windig,
Schauer
8h mit Pausen, 5h reine Laufzeit
23km
Vändra nach
Lokuta Puhkekeskus (Gästehaus)
Der Tag
beginnt natürlich – wie alle letzten Tage – mit einem
mißtrauischen Blick gen Himmel. Die Wolken sind immer noch da, der
Wind auch, also alles vollkommen unberechenbar. Ich packe meine
Sachen zusammen, fülle drüben im Haupthaus nochmal meine
Wasserflaschen auf und als ich noch einen Moment draußen sitze,
treffe ich nochmal auf den Gastgeber und wir plaudern ein bißchen
über meine Reise. In diesem Gespräch sagt er einen Satz, der mich
heute noch den ganzen Tag beschäftigen wird: „You are a free man.“
Oh ja. Wie recht er damit hat. Und wie wenig bewußt mir das manchmal
ist...
Ich mogele
mich durch die kleinen Straßen von Vändra, an Kirche und Friedhof
vorbei, zwischen Schule und Stadion hindurch, über eine kleine
Brücke. Der Bach darunter hat offensichtlich nicht viel von den
Regenfällen der letzten Tage abbekommen. Da herrscht immer noch
Ebbe. Noch ein Sägewerk, dann das Ortsende, schnell die
Nationalstraße 5 überquert und auf die erste Schotterstraße
abbiegen. Aaaaaah, durchatmen.
 |
Die Schnitzelkneipe von vorgestern. Keine Fenster.
|
Hier auf dem
Feld sieht der Himmel nochmal bedrohlicher und dunkler aus als
drüben im Ort. Ich nehme mir vor, meine Nerven zu schonen und
einfach mal davon auszugehen, daß ich heute sowieso naß werde – auch
wenn gerade die Sonne scheint. Das kann einfach nicht halten. Die
erste Frühstückspause nach zwei Stunden feiere ich auf einem
kleinen Rasenstück mitten auf einer Wegkreuzung. Ein klappriger
Citroen Kastenwagen kommt angefahren, parkt, telefoniert, fährt
wieder zurück. Wahrscheinlich kein Netz im Wald. Ich spüre die
ersten Regentropfen. Aber nur fünf, dann ist wieder Ruhe.
Eine halbe
Stunde später, dann aber richtig. Der Regenschirm war gerade so
griffbereit genug, um das Schlimmste zu verhindern, denn der Schauer
kam schnell und heftig, mit drehendem Wind mal von rechts, mal von
links. Ich ziehe das Tempo an, um weg vom freien Feld wenigstens in den
Windschatten der Bäume zu kommen, und als ich da bin, ist der Spuk
auch schon wieder vorbei. 6 Minuten. Es wird der einzige Schauer für
heute bleiben, trotz aller farblichen Bedrohungen vom Himmel.
 |
MIT Regen...
|
 |
...und 7 Minuten später wieder ohne.
|
Ehrlich gesagt
laufe ich heute schon wieder auf Forststraßen, aber irgendwie habe
ich das Hirn ausgeschaltet. Stört mich also heute auch nicht. Und
mit der Mittagspause beginnt das Highlight. Ich setze mich zum
Picknick auf den RMK-Zeltplatz Mukri lõkkekoht, der eher ein
rumpeliger Waldparkplatz ist als ein Zeltplatz. Aber von hier startet
der Weg durch das Sumpfgebiet nebenan, der Mukri loodusraja. Der Weg
führt durch ein kleines Waldstück, dann öffnet sich der Blick auf
ein riesiges Sumpfgebiet mit einzelnen Teichen, weitläufigen Wiesen
und einzelnen verkrüppelten Bäumen. Bis zum Horizont nahezu
unpassierbar. Holzbalken sind als Wege ausgelegt, und über allem
dröhnt der Wind ungehindert hinweg. Ich komme aus dem Gucken und
Fotografieren gar nicht mehr heraus.
Ein Stückchen
weiter ein richtig hoher Aussichtsturm, ich werfe den Rucksack ab und
sprinte hoch. Trotz Wind steht das Ding bombenfest und wackelt nicht.
Kein Vergleich zu den popeligen lettischen Aussichtstürmen, die wie
ein Rattenschwanz im Wind mitsegeln! Die Aussicht ist gigantisch.
Aber erstmal muß ich der Schwalbenfamilie zugucken, die ihr Nest
kunstvoll direkt unter dem höchsten Punkt des Turmdaches geklebt
hat. Alle paar Minuten kommt einer der Elternvögel mit Futter
angeflogen, 3 Sekunden vollkommene Aufregung bei den Jungvögeln,
dann kehrt wieder Ruhe ein.







Ich schaue von
oben auf die Weiten des Sumpfes, die Wiesen, die Teiche, genieße den
Wind und die Tatsache, daß ich das heute an einem Mittwoch alles
ganz für mich alleine habe. Weit und breit kein Mensch zu sehen. Ein
Stückchen weiter könnte man schwimmen gehen, es gibt eine kleine
Plattform am Rand eines Teiches, mit Leiter hinunter ins Wasser. Aber das Wasser ist
derart schwarz und undurchsichtig, daß ich mir den Gedanken daran
sofort verbiete. Never! Statt dessen treibe ich mich noch eine knappe
Stunde auf den Wegen des Sumpfgebiets herum, bevor ich wieder auf der
Forststraße stehe.
Hier müsste
ich jetzt eigentlich rechts abbiegen und dem RMK-Weg zum nächsten
Zeltplatz folgen. Aber ich hatte beim Blick auf die Karte noch eine
andere Idee. Wenn ich statt dessen eine 4km-Straßenetappe in Kauf
nehme, komme ich nicht nur an einem kleinen Dorfladen vorbei, gleich eine Tür
weiter gibt es anscheinend auch noch ein Gästehaus. Da ich keine
Ahnung habe, welches Los das Wetter heute Abend noch so für mich
parat hat, will ich es zumindest mal probieren. Ein Dach über dem
Kopf ist immer gut. Und wenn es nicht klappt, kann ich immer noch zum
nächsten RMK Zeltplatz weiterlaufen und habe noch nicht mal einen
Umweg gemacht.
Also ziehe ich
entspannt eine überschaubar befahrene Landstraße entlang, schaue
mir mal wieder Wind und Wolken über Feldern an, und irgendwann stehe
ich vor einem gelben Haus. Erstmal den Laden auschecken. Ein
freundliches „Tere!“ an die drei Herren auf der Bank vor dem
Haus, die schon ihre Bierflaschen gezückt haben. Ich kaufe mir ein Eis und frage die
Frau hinter dem Tresen in meinem unglaublich guten Estnisch nach
einem Zimmer. Eine andere Kundin übersetzt via Englisch, die
freundliche Dame telefoniert mit den Besitzern des Gästehauses,
Zimmer klappt, 25 EUR, hier drüben. Ich kriege fast ein schlechtes
Gewissen, weil sie am Ende sogar ihren Laden alleine läßt, um mir
das Zimmer einen Eingang weiter zu zeigen, aber am Ende sind alle
happy. Ich weil ich ein Dach über dem Kopf und eine Dusche habe, sie
weil sie eine gute Tat getan hat und die drei Herren auf der Bank vor
dem Laden weil sie ein tolles Männlein-laufen-Schauspiel gesehen
haben.

Später am
Abend kommt überraschend noch ein weiterer Gast in das riesige leere
Gästehaus, das sonst eher für Feiern und Festlichkeiten vermietet
wird. Ich rücke meine Sachen zusammen, um etwas Platz in der
Sitzgruppe zu machen, aber wir sind uns nicht im Wege. Ich denke noch
etwas über die Aussage meines Gastgebers von heute früh nach, den
„freien Mann“. Genug Zeit habe ich ja...
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen