Samstag, 8. Juli 2023

Tag 38: Mal wieder deutlich länger als gedacht...

Samstag, 01.07.2023
Morgens 17°, Nachmittags 22°; Vormittags Schauer, danach heiter
10h mit Pausen, 7h reine Laufzeit

34km
RMK
Kopra tare lõkkekoht nach RMK Kõrtsi-Tõramaa lõkkekoht (Naturparkzentrum)

Ichbinsoclever! Wie vorhergesagt regnet es am Morgen, ich liege entspannt in meinem Zelt, gucke raus in den Wald, und freue mich darüber, daß ich später mein trockenes Zelt einpacken kann, weil ich es im Unterstand und nicht auf der Wiese aufgebaut habe.

Gegen 09:30 ist der Regen durch und kurz darauf bin ich abmarschbereit. Aber auf meine morgendliche Motivation folgt... Ödnis. Sofort wieder langweilige Forststraßen, rechtwinklig, geradeaus. Ich muß mir dringend das Maulen verkneifen, aber an einem solchen Tag gelingt es mir einfach nicht.

Immerhin ist das Wetter spannend. Es ist herbstlich kühl, der Wind weht freundliche und weniger freundliche Wolken am Himmel vorbei. Und insgesamt ist vollkommen klar, daß das Wetter mit heute mal deutlich für die nächsten Tage gedreht hat. Hier ein kleiner Ausschnitt aus der lokalen Wettervorhersage:

Noch Fragen? Nein, also weiter geradeaus.

Als ich später Frühstückspause mache, saust der erste Mountainbiker an mir vorbei, dann noch mehr und innerhalb der nächsten zwei Stunden sind es wahrscheinlich 30 oder 40, die mich überholen. Ich lerne, daß es hier im Wald eine 3-Tages-Challenge gibt, Mountainbike/Laufen/Kanu, 230km pro Tag. Na viel Spaß, ich mach so lange mein eigenes Ding.


Der erste spannende (oder überhaupt erwähnenswerte) Ort des Tages kommt erst nach 5 Stunden Weg: Der RMK-Zeltplatz Pertlimetsa lõkkekoht. Gelegen in einer skandinavisch anmutenden Sand- und Heidelandschaft, etwas versteckt von der Schotterstraße entfernt, windumtost. Auf der dazugehörigen Infotafel wird mit unvergleichlichem Humor angepriesen, daß dem Wanderer an diesem Rastplatz eine nahezu unerhörte Attraktion geboten wird: Holzbänke mit (!) Rückenlehnen (!!). Ok, stimmt. Hatte ich zwar gestern Abend auch, gibt es sonst hier aber eber nicht. Aber die Tatsache, daß dieser Witz es bis auf offizielle Infotafeln des RMK geschafft hat, stärkt meinen Glauben an das Gute im estnischen Wald.

Hinter Pertlimetsa nochmal 2 Stunden Schotter, dann stolpere ich zu meinem Erstaunen auf eine asphaltierte Straße. Die ersten Autos seit Langem kommen vorbei und düsen Richtung Westen. Ich laufe in die tiefstehende Sonne hinein, der Schotter ist gleich nach den nächsten 2 Häusern wieder zurück. Die ersten Wiesen schieben sich in das Bild und öffnen das geschlossene Waldpanorama der letzten beiden Tage. Rinderherden weiden auf dem saftigen Gras, Wind und Sonne striegeln die Felder und ich freue mich schon auf den nächsten Zeltplatz.


Läti lõkkekoht soll es sein, zwar leider direkt neben der Straße gelegen, dafür aber mit Aussichtsturm, Picknickhütte und Plumpsklo. Aber als ich ankomme, nimmt mir der Wind fast den Atem. Das, was sich tagsüber im Wald nach einem auffrischenden Wind anfühlte, ist hier auf den weiten Feldern ein halber Sturm. Kein Windschatten weit und breit. Dazu ist der Bach neben dem Zeltplatz durch die Dürre der letzten Wochen nahezu ausgetrocknet, nur ein paar halb verrottete Wasserpflanzen und Algen liegen im Schlamm herum. Ich hab nichts mehr zu Trinken übrig und die Aussichten, die Nacht hier im Wind und ohne Wasser zu verbringen, sind wenig attraktiv. Und eigentlich habe für heute schon genug, ich bin seit über 8h unterwegs.


Aber nicht lange rumüberlegen, sondern tief durchatmen. Es hilft ja nix. Rucksack wieder aufsetzen und nochmal 8km weiter bis zum nächsten Zeltplatz. Da wird es auf jeden Fall besser sein, eine große Wiese direkt neben dem Nationalpark-Zentrum sollte da auf mich warten. Da wird es sicher auch irgendwie/irgendwo Wasser geben.

Die nächsten knapp 2 Stunden sind eher – nun ja – meditativ. Ich versuche mich lieber an den grünen Wiesen und der tiefstehenden Sonne zu erfreuen, um mich bei Laune zu halten. Aber irgendwann komme ich an, das Nationalpark-Haus hat geschlossen, aber es gibt eine schöne Campingwiese daneben. Auf dem Parkplatz stehen zwei deutsche Campervans mit jeweils zwei Klappstühlen davor, schön in Richtung der untergehenden Sonne ausgerichtet. Ich rieche Gulascheintopf aus der deutschen Dose.

Ich entere die einzige Bank auf der weiten Campingwiese und setze mich erstmal hin. Uff. Langer Tag. Der Durst treibt mich rüber zum Nationalparkzentrum, ich finde keinen Brunnen, aber da rechts, unter dem Schleppdach sehe ich einen Gartenschlauch. Und ja, da kommt auch Wasser raus. Brunnenwasser natürlich, aber es riecht und schmeckt ok. Da hab ich schon Schlimmeres getrunken. Auf dem Weg zurück zu meiner Bank fällt mir auf, daß darunter zwei Kästen zu sehen sind und – ich werd nicht mehr! Direkt unter der Bank versteckt sich ein Wasserhahn und ein Elektrokasten mit zwei Steckdosen. Estland, Respekt! Später finde ich sogar noch heraus, daß ich vor dem Eingang des Zentrums sogar Wifi stehlen kann, das Passwort hängt freundlicherweise aus. Estland!!

Gut, daß ich heute noch weitergelaufen bin.

Die restlichen zwei Stunden Tageslicht verbringe ich damit, im Wind zu sitzen und überlege mir, wo ich eigentlich schlafen möchte. Ich habe die volle Auswahl. Ich könnte mein Zelt auf der Wiese aufbauen, aber es soll heute Nacht wieder regnen. Trockenes Zelt einpacken wäre schön. Ich könnte das Zelt auch unter dem riesigen Picknickdach aufbauen, aber dafür müsste ich die schweren Holzbänke und -tische umräumen. Was ist das da eigentlich für eine kleine rote Hütte?

Minimalismus mit einem Schuß Komfort.
 
Perfekt. Offen, warm, ein halbes Stockbett, hier bleibe ich. Die kleine Mückenfamilie, mit der ich mir diese Unterkunft heute Nacht teilen werde, nehme ich gerne in Kauf. Ich lüfte in der untergehenden Sonne nochmal ordentlich durch, um den Muff und Staub der letzten Monate zu vertreiben, dann lege ich mich auf meinen Schlafsack und döse sehr schnell weg...

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