Dienstag, 13. Juni 2023

Tag 20: Nervenprüfung.

Dienstag, 06.06.2023
Morgens 6°, Nachmittags 22°; sonnig
9,5h mit Pausen, 6,5h reine Laufzeit
31km
Waldlichtung nördlich von Bebrene nach Zasa

Die Nacht war gut und ruhig, ich bin gegen 04:30 das erste Mal aufgewacht und es war schon so hell, daß ich im Zelt bequem hätte Lesen können. Ich hänge der Frage nach, wie lange es hier gerade überhaupt dunkel ist – Sonnenuntergang 21:53, aber es war danach sicher noch eine Stunde lang nicht wirklich dunkel. Ich schlafe wieder ein und wache gegen 06:30 richtig auf, die Sonne heizt das Zelt langsam auf. Ich kann im Liegen schon massenweise Mini-Mücken sehen, die vor dem Zelt auf mich warten. Da hilft nur Seufzen und durch. Draußen dann kühle und feuchte Morgenluft, ich packe im Expressmodus meine Sachen zusammen und stapfe los.

Die nächsten Kilometer scanne ich, wie um mich selbst für den schönen vermurksten Tag gestern zu bestrafen, nach möglichen Plätzen für mein Zelt, wenn ich doch gestern Abend nur noch ein bißchen weiter gegangen wäre. Natürlich ist das sinnlos, diese Messe ist längst gesungen, eigentlich sollte ich mich auf den Tag freuen.

Aber es fällt mir schwer heute. Die ersten 10 Kilometer durch leeren Wald, auf breiten Forstautobahnen, die hier nur hineingeschlagen wurden, damit die Holz-Trucks ihre Ladungen abfahren können. Undurchdringlicher Wald links und rechts des Weges, manchmal eine Rodung, dann weiter geradeaus. Ich fühle mich heute genauso mechanisiert wie dieser Wald es ist. In Litauen durchzogen kleine Sandwege die Wälder, führten über Hügel und um kleine Sumpfstellen herum, hier geht es geradeaus, links und rechts der Straße akkurat mit Graben und mit genormtem Schotter als Straßenbelag.

Birkenplantage (aka Fototapete)

Ich mache wieder mehr Pausen als mir gut tun, der Tag gestern hat mir zugesetzt. Nach guten zwei Stunden erreiche ich das winzige Dorf Tadenava, hier gibt es ein Museum, das einem wichtigen lettischen Dichter gewidmet ist. Der lyrische Teil daran ist mir heute relativ egal, das Museum hat sowieso geschlossen. Aber ich nutze natürlich gerne den schönen Picknickplatz neben dem Teich und fülle dankbar meine komplett leeren Wasserflaschen aus dem Brunnen auf dem Hof auf. Wasser statt Poesie.

Danach wird’s launemäßig kritisch. Die nächsten Stunden gehen wieder über schnurgerade Forststraßen, links und rechts gerodeter Wald, zur Abholung bereitliegend neben der Straße. Alle Wege verlaufen in 90°- oder 45°-Winkeln. Hier geht niemand freiwillig Spazieren. Hier wird nur Fahrrad gefahren, um durch dieses Waldgebiet durchzukommen. Industriewald, Erntewald, Sumpfwald. Ich ziehe mir den Hut tiefer ins Gesicht und stiefele mißmutig geradeaus, begleitet von einem Schwarm Bremsen, Mücken und ein paar Wespen. Der Tag heute ist ein bißchen wie eine Prüfung meiner Nerven.


Die letzten knapp 2 Stunden setzen dann dem Ganzen noch die Krone auf. Die Landstraße P72 ist nicht asphaltiert, wie ich in meiner mitteleuropäischen Einfalt angenommen hatte. Jedes vorbeifahrende Auto hüllt mich in eine zweiminütige Staubwolke aus feinstem weißen Schotterstaub, der zwischen meinen Zähnen knirscht.

Als ich endlich von der P72 abbiege, wird alles wieder gut. Ich erreiche das Dorf Zasa durch die Hintertür, komme direkt am Dorfladen vorbei. Die gutmütige Verkäuferin in der adretten Kittelschürze erkennt in mir sofort den des Lettischen unkundigen Touristen und verkauft mir mit freundlich-verschmitztem Lächeln ein paar Getränke und ein Eis.

Gleich gegenüber ist der Reiterhof, auf dem ich mir ein Zimmer bestellt habe. Meine junge Gastgeberin hüpft fröhlich in Socken die Treppe herunter, als ich den Kopf zur Haustür hereinstrecke. Das Haus ist ein Ableger eines alten Herrenhauses, knarrende Holzböden, ein Kamin und ein riesiger Ofen in meinem Zimmer zeugen von den vergangenen Zeiten. Nach der Dusche schlafe ich natürlich erstmal auf dem Bett ein – eigentlich wollte ich mir am Abend doch noch den alten Park rund um das ehemalige Gutshaus anschauen. Och, vielleicht ein andermal. Ich hole den Genuß einfach da ab, wo ich ihn gerade finde...

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