Sonntag,
28.05.2023
Morgens 6°, Nachmittags 19°; kühl und sonnig
6,75h
mit Pausen, 5,25h reine Laufzeit
25km
Salakas nach Visaginas
Gestern Abend musste ich kurz vor dem Einschlafen nochmal rabiat werden. Irgendein Tier hatte sich überlegt, daß es gerne mal wissen wollte, wie es so unter meinem Zelt aussieht, also fühlte ich mich gezwungen zu scheuchen. Blöd nur, daß ich immer noch nicht die geringste Ahnung habe, was für ein Tier das gewesen sein könnte. Maus? Igel? Riesenameise?
Am Morgen treibt es mich sehr früh aus dem Zelt. Ich hab irgendwie Hummeln im Hintern. In neuer Rekordgeschwindigkeit packe ich meinen Kram zusammen, Frühstück lasse ich ausfallen, und um kurz nach 07:00 stiefele ich los. Sonntagmorgen, wohlgemerkt, liebe Daheimgebliebene.
Die Mücken sind mit mir zusammen wach geworden und freuen sich über mein frühzeitiges Erscheinen, auf den ersten Kilonetern durch den feuchten Wald neben dem großen See wird es wieder so heftig, daß ich mir mein Mückennetz über den Kopf werfe. So, jetzt ist Ruhe. Die erste Pause kommt bald, ich suche mir den einzigen Sonnenplatz weit und breit.
Ich biege auf einen kleinen Räuberweg ein, der sich als schmaler, sumpfiger Trampelpfad durch den Wald entpuppt. Der dramaturgische Höhepunkt ist die Holzbrücke über den kleinen Fluß, der zwei Seen verbindet. Ich schaue runter ins klare Wasser, sehe Fische und bergeweise Muschelschalen. Die Sonne verstärkt die 1000 Grüntöne des Waldes und ich bin einfach nur glücklich.
Das Kraftwerk ist lange außer Betrieb, nur noch ein Bruchteil der Arbeiter sind mit dem Rückbau beschäftigt. Und das merkt man Visaginas an. Mir erscheint die Stadt wie ein vom Alter geschrumpfter Mann, der in viel zu großen Kleidern mit ungewisser Zukunft auf einer Bank sitzt. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist die Einwohnerzahl im mehr als ein Drittel gesunken. Die Straßen still und leise, reihenweise stehen die Plattenbauten leer, die Stadtverwaltung kann niemals die Mittel aufbringen, all diese Infrastruktur mit den Steuergelden von so viel weniger Einwohnern zu erhalten. Visaginas scheint vom Rande her zu verfallen, die Bewohner ziehen immer weiter in die Innenstadt und die äußersten Ringe von Wohnsiedlungen werden langsam wieder vom Wald verschluckt.
Trotzdem - oder gerade deswegen - eine wirklich spannende Stadt. Hier wird im Wesentlichen Russisch gesprochen, eine Ausnahme im sonst sehr sprach- und kulturbewussten Litauen. Ich betrete mein Apartment in einem der halbleeren Wohnblöcke, richte mich ein und freue mich auf den letzten Tag in Litauen: Morgen. Als ich am späten Nachmittag meine Wäsche auf dem Balkon aufhänge, ist in dieser ganzen Stadt kein Laut zu hören, außer dem Wind in den Bäumen. Großartig.
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