Montag, 5. Juni 2023

Tag 17: Über die Grenze nach Lettland.

Montag, 29.05.2023
Morgens 8°, Nachmittags 19°; teils heiter / teils wolkig
9h mit Pausen, 7,5h reine Laufzeit
35km
Visaginas (LT) nach Daugavpils (LV)

Schon bei der Planung dieser Etappe habe ich geahnt, daß ich mich später dafür hassen würde. Ich habe gesucht und überlegt ob es irgendwie anders geht, am Ende aber festgestellt, daß mir keine richtige Alternative einfällt. Also habe ich mir dir heutige Etappe so markiert, kurz boshaft gelacht und zu mir gesagt: "Der Tag wird keinen Spaß machen...".

Daran erinnere ich mich sehr lebhaft, als ich sehr früh am Morgen aus Visaginas losziehe. Vor mir liegen 35km entlang der Bahnlinie nach Daugavpils, auf Feldwegen neben den nicht mehr befahrenen Gleisen. Es wird ein langer Tag werden, langweilig, in der prallen Sonne und ohne echte Abwechslung. Aber ok, wenn die Motivation mal fehlt, dann muß halt die Disziplin her. Und so schalte ich für heute um auf "das machste jetzt halt mal".

Ich verlasse Visaginas in Richtung Nordwesten. Ein komplett leerer vierspuriger Boulevard führt vom Stadtzentrum zum Bahnhof. Die Stadtväter waren sich damals wahrscheinlich zu 100% sicher, daß hier bis in alle Ewigkeit ein sozialistischer Bus fahren wird, um die Arbeiter ins Kraftwerk zu bringen, deshalb haben sie die Gehwege einfach weggelassen. Aber egal, hier fährt sowieso kein Auto.

Kurz hinter dem Bahnhof überquere ich die Gleise und reihe ich mich in die Fahrspur links neben der Bahnlinie ein -- und damit ist der Tag fast schon auserzählt. Für die nächsten Stunden sind die einzigen Abwechslungen, daß der Weg mal links, mal rechts der Gleise verläuft. Meistens einspurig, manchmal sogar zweispurig. Dann wieder einspurig!!

 Das einzige Highlight ist die Grenze zwischen Litauen und Lettland, die ich kurz hinter dem Bahnhof von Turmantas erreiche. Ein paar bunte Pfosten in der Landschaft, ansonsten ändert sich nicht viel. Das Ende von Litauen und der Anfang von Lettland unterscheiden sich nicht wirklich.
Litauen ist jetzt also durchwandert, ich mache stolz ein paar Fotos von meinem Rucksack am Grenzstein. Dabei kriege ich gar nicht mit, daß 10m weiter ein Dorfhund mittig zwischen den Gleisen in der Sonne liegt und mir zuguckt. Ok, wenn DAS meine Grenzkontrolle für heute sein soll, dann gebe ich bereitwillig Auskunft.


Ich mache wieder viel mehr Pausen, als mir gut tun würden („Ich versaue mir noch den ganzen Schnitt!“, um mal den alten Klassiker meines Vaters zu zitieren...). Aber ich kann nicht anders. Der Tag verlangt mir relativ viel ab. Um meine Laune ist es auch nicht allzugut bestellt. Endgültig Schluß mit lustig ist dann, als auf dem schmalen Fahrweg neben den Gleisen ein VW Touareg mit riesiger Staubwolke und ca. 90km/h auf mich zu gebrettert kommt, ich gerade noch so beiseite treten kann und mir das Auto (statt freundlich abzubremsen und in angemessenem Tempo an mir vorbeizufahren) aus 20cm Abstand eine Ladung Steine und Staub ins Gesicht wirft, daß ich mir den Mittelfinger nicht mehr verkneifen kann.


Ungefähr 2 oder 3 Stunden vor meiner Ankunft in Daugavpils kann ich von einer Anhöhe aus die ersten Plattenbauten der Stadt in der Ferne flimmern sehen. Was für ein bösartiges Foul, mir das Ende der Etappe so früh vor die Nase zu halten. Also weiter, hilft ja nichts. Zwei Angler grüssen auf Russisch, sonst habe ich seit der Grenze keinen Menschen mehr gesehen. Vielleicht ist das der Unterschied zu Litauen: Lettland wirkt noch leerer. Aber vielleicht ist das auch ein voreiliges Urteil.


Daugavpils kündigt sich später durch die ersten rumpeligen Gewerbehöfe und Garagen an, es folgen die ersten Ansammlungen von Häusern. Ich nähere mich der Stadt von Süden her, vom falschen Ufer der Daugava (Düna) her. Auf dieser Seite gibt es nur Kreisverkehre, Rampen und Zufahrten zur Brücke über den Fluß, das örtliche Gefängnis und ein paar im Stich gelassene Häuser. Ich leere kurz vor der Brücke nochmal den Sand aus meinen Schuhen, schreite über den Fluß und tauche direkt dahinter ab in eine Stadt aus Backstein und Beton, der man ansieht, daß sie schon viele Zeitenwenden durchgemacht hat.

Meine Apartmentvermieterin trifft mich vor dem Haus, ich werfe vollkommen erledigt meinen Rucksack ab, fahre das Grundreinigungsprogramm in der Dusche und schleppe mich später noch gerade so zum nächsten Laden, um ein paar Getränke einzukaufen. Ich werde erstmal ein paar Tage hierbleiben, Daugavpils ist mit seinen 70.000 Einwohnern die größte Stadt weit und breit (witzigerweise die zweitgrößte Stadt Lettlands, nach Riga) und ich möchte meinen Knien und meinem Körper mal ein paar Tage Ruhe gönnen. Eigentlich wollte ich nur zwei Tage bleiben, wahrscheinlich bleibe ich aber bis zum Wochenende. Mal sehen, das entscheide ich vielleicht morgen. Oder so.

Aber ich bin stolz und glücklich, daß ich Litauen durchwandert habe und freue mich gleichzeitig auf das nächste Stück Weg in Lettland. Hier war ich noch viel zu selten, das kann ich jetzt ändern.

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