Montag, 10. Juli 2023

Tag 40: Kurzer Ausfallschritt in die Zivilisation.

Montag, 03.07.2023
Morgens 12°, Nachmittags 18°; wechselhaft, bedrohliche Wolken, stürmisch
8,25h mit Pausen, 5,75h reine Laufzeit
27km
Vanaõue Puhkekeskus (Gästehaus) nach Vändra

Zweimal bin ich in der Nacht aufgewacht, weil der Regen gegen mein Dachfenster gehämmert hat, als gäbe es kein morgen. Und am Morgen dann: Sonnenschein. Ich gucke aus dem Fenster und denke, mein Schwein pfeift...

Runter zum Frühstück, mir schießen fast die Tränen der Rührung in die Augen. Spiegeleier, Speck, Tomaten, Gurken, Brot mit Wurst und Käse, Porridge, Wasser. Dazu ein nicht bestellter Kaffee. Egal, vergeben, ich bin glücklich. Essen! Eine gute halbe Stunde später sitze ich draußen auf der Bank und ziehe mir die Stiefel an. Sonnig, windig, dramatische Wolkenformationen sausen am Himmel vorbei nach Osten. Der Rucksack ist wasserdicht gepackt, der Regenschirm steckt lose und griffbereit an der Seite des Rucksacks, damit ich zum Ziehen noch nicht mal anhalten muß.

Gleich auf der anderen Seite der Straße geht die offizielle Wanderroute weiter. Der Sandweg ist durch den Regen der letzten Nacht frisch geharkt, alles ist kühl und feucht, meine Fußspuren sind die Einzigen. Nach nur einer Viertelstunde stehe ich am ersten RMK-Zeltplatz. Hier wäre wohl mein Ausweichquartier gewesen, wenn das Gästehaus von gestern Abend mich nicht genommen hätte. Erinnert mich schwer an die sandigen Wälder rund um den Jägersee, den Baggersee meiner Kindheit.

 

Nach der ersten Stunde Weg kommt freundlicherweise eine kleine Picknickbank. Ich sitze im tosend lauten Wald, der Wind brüllt durch die Kronen der Bäume. Mir fällt auf … daß … ich heute bisher nichts zu Meckern habe! Die Wege sind … kleine Räuberwege. Keine geraden Schotterstraßen. Sondern schmale Pfade durch den Wald, mit so spannenden Sachen wie Wurzeln! Und … der Wind … wo zur Hölle ist mein Bremsen/Mücken/Fliegen-Schwarm? Weg! Sollte das … könnte das … der erste Tag sein, an dem ich nichts zu Meckern habe? Wäre der Wahnsinn.


Was mich heute auf jeden Fall begleitet, ist der ständige Blick zum Himmel. Es ist herbstlich sonnig, wirkt aber immer auch irgendwie so, als würde spätestens in 5 Minuten der Himmel seine Schleusen öffnen und ein heftiger Regenschauer beginnen. Passiert aber nicht. Der Wind weht einfach die nächste Wolke heran.

Ich sehe ENDLICH die ersten Blaubeeren am Waldboden, natürlich nur an den sonnigsten Stellen. Ich hatte mich schon gewundert, wieso hier überall noch nichts an den Blaubeer-Büschen zu sehen ist, aber vielleicht habe ich dabei auch galant übersehen, daß Estland mal locker 700km? weiter nördlich ist als meine ursprüngliche Heimat Franken.

Auch der nächste Pausenplatz ist sonnendurchflutet und windzerzaust, ich sitze wie im Herbst mit ein paar Lagen Klamotten zuviel auf der Bank, damit mir nicht kalt wird. Herrlich. Nur 500m weiter stoße ich im Wald auf eine ehemalige Forstarbeiterhütte (Saeveski metsaonn), die heute vom RMK als für alle frei zugängliche Wanderhütte betrieben wird. Der Rundgang durch das Haus ist wie eine Zeitmaschine um 150 Jahre zurück. Alleine möchte ich hier nicht übernachten, zu spooky ist das Innere der Hütte und der Wald drumherum, zusammen mit dem Wind, der an jeder Ecke des Hauses rüttelt. Aber zusammen mit einer lärmenden Gruppe könnte man hier schön Spaß haben...

Gleich hinter der Hütte biegt der Weg wieder – ich kann es kaum fassen! - von der Schotterstraße schräg in das Waldstück ein und geht diagonal weiter durch den Wald. Ein echter kleiner Fußweg. Und der hält auch noch die nächsten 2 Stunden...

Irgendwann ist aber natürlich auch dieses Glück vorbei und ich stehe wieder auf einer Straße. Gegenüber das nächste Freilichtmuseum, heute Gott sei Dank geschlossen. Dann muß ich mir wenigstens keine Vorwürfe machen, daß ich das einfach links liegen gelassen habe. Das „C.R. Jakobsoni Talumuuseum“ zeigt den bäuerlichen Alltag von vor über 100 Jahren, schöne alte Scheunen, liebevoll restaurierte Holzhäuser, hier müsste man wahrscheinlich nochmal hin und gucken.


Ich setze mich gleich nach der Brücke über den Pärnu-Fluß (so meine gekonnte Übersetzung aus dem Estnischen) erstmal unter das Dach einer Bushaltestelle, weil der Himmel gerade extrem nach Ärger aussieht. Aber als ich 10min später wieder hingucke, ist der Spuk wie weggeblasen und der Himmel blitzt und blinkt wieder vor Sonne und kleinen dahin gepeitschten Wolken.


Die nächsten Kilometer auf der Straße nehme ich dem Tag heute gar nicht übel. Durch die schönen Wege vom Vormittag verzeihe ich ihm heute alles. Auf der anderen Seite der großen Nationalstraße 5 (Pärnu – Rakvere) geht der offizielle Wanderweg weiter nach Norden. Ich stehe ein bißchen doof an der Kreuzung, weil: Durch den Wetterbericht getäuscht, war ich mir gestern sooo sicher, daß ich heute wieder mehr oder weniger wieder den ganzen Tag im Regen laufen würde. Also habe ich mir ca. 11 oder 12km westlich von hier in Vändra ein Zimmer bestellt, um wenigstens zum Abschluß des Tages ein Dach über dem Kopf zu haben. Und einen Laden, das war das andere wichtige Argument. Jetzt stehe ich hier an der Kreuzung, knochentrocken, weil ich heute noch keinen einzigen Tropfen Regen abbekommen habe. Aber ich sehe und höre im Westen schon die nächste Gewitterfront heranziehen, und bevor ich auf doofe Ideen komme und doch irgendwo im Wald zelte, mache ich mich auf den Weg nach Vändra.

Aufgabe: Bitte berechnen Sie das Verhältnis zwischen Konsonanten und Vokalen.

Bißchen Straße, bißchen Schneise unter der Überlandleitung, noch mehr Straße. Nicht drüber nachdenken, hat keinen Spaß gemacht. Dazu noch mit dem ständigen Blick auf die dunklen Wolken im Westen. Ein paar wenige Tropfen bekomme ich ab, dann hat der Wind es auch schon wieder geklärt.

Aber egal, Vändra. Ein Laden mitten im Zentrum! Glückliches Einkaufserlebnis im Coop zwischen weitläufigen Regalen. Danach: Es gibt eine Dorf-kneipe? -kantine? -pub? Egal, ich betrete einen sehr düsteren Raum ohne ein einziges Fenster. Die Tür ist die einzige Öffnung in dieser alten umgebauten Steinscheune. Drinnen ist es wie in Brandenburg. Die Dame hinter dem Tresen ist erst wenig begeistert von mir, meinem Rucksack und meiner generellen Präsenz. Ich bestelle, was da ist: Soljanka, Schnitzel, Pommes, Salat. Auch wie in Brandenburg. Als die Dame aber sieht, wie gut mir dieses erste warme Essen seit 4 Tagen schmeckt, wird sie plötzlich weich und schenkt mir doch noch ein Lächeln.


Um 17:00 Uhr ist hier Feierabend, ich wanke vollgestopft wieder raus auf die Straße. Hier draußen hätte inzwischen die Welt untergehen können oder ein Steptanzgruppe mit 200 Mitgliedern vorbeiziehen können, ich hätte es hinter den dicken Steinmauern nicht mitbekommen. Ein guter Ort, um die Welt zu vergessen. Aber es ist alles wie vorher. Windig, mit drohendem Regen.


Auf den letzten 300m vor meiner Unterkunft muß ich dann tatsächlich noch den Schirm zücken. Weil es richtig zu regnen anfängt. Welch Ironie. Ich wohne heute Nacht in einem Baumhaus, am Rande des Dorfes. Nach einer Dusche drüben im Haupthaus sitze ich am Fenster und beobachte die Wolkenbänke am Horizont, das Baumhaus schwankt zusammen mit den Bäumen leise knackend im Wind, als wäre ich in einem Nachtzug der Bahn unterwegs. Essen werde ich heute Abend sicher nichts mehr, aber mit vollem Bauch im Trockenen zu sitzen, frisch geduscht, während draußen Wind und Regen regieren: Ja.

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