Montag,
26.06.2023
Morgens 11°, Nachmittags 22°; wechselhaft mit
Schauern
9,5h mit Pausen (inkl. 2h Holz stapeln...), 5h reine
Laufzeit
23km
kleiner Rastplatz am Salaca-Fluß nach Gästehaus Raamatu puhkemaja (südlich Kilingi-Nõmme)
Ruhige Nacht, wieder 7h durchgeschlafen, es war angenehm unkalt. Das Gewitter von gestern Abend hatte keine weiteren Ausläufer mehr. Also packe ich zusammen und starte in den Tag. Einige Zecken kriechen auf meinem Zelt herum und ich kann es mir nicht verkneifen, sie maximal weit weg zu schnippen. Ich würde es auf jeden Fall nicht fertigbringen, sie einfach zusammen mit dem Zelt einzuwickeln und in meinen Rucksack zu stecken. Zu all meinen anderen Sachen, würg!
Der Weg schängelt sich noch eine Stunde am Fluß entlang, dann macht er eine jähe Biegung und endet mit einer kühnen Brückenkombination auf einem Feld. Der Bauernhof weiter links vermietet seine Wiese an die Wassertouristen, hier hätte ich gestern Abend auch übernachten können, aber ich bin auch so zufrieden. Plötzlich stehe ich wieder auf einem lettischen Feldweg, weite Felder, hinten am Horizont Wald, oben Himmel. Kenne ich irgendwie schon... Also weiter, zur Straße. Heute wird wieder zum größten Teil eine Straßenetappe werden, es gibt einfach keinen anderen Weg.
Kurz vor der Hauptstraße kommt mir ein klappriger alter Lada entgegen, ich freue mich so sehr über den Anblick, daß der Fahrer sich gleich mitfreut. Zehn Minuten später biege ich auf die einzige Straße in Richtung Estland ein und teile sie mir die nächste Stunde mit vorbeiheulenden Holz-Trucks, unter Vollgas auf dem Weg irgendwohin.
In Ramata wartet ein Laden auf mich, zwei Stammkunden sitzen schon auf der Bank davor und ich höre gerade noch das charakteristische Knacken einer Bierdose. Und weil es schon 11.00 Uhr ist, gehe ich mir im Laden erstmal ein Eis holen. Der Laden ist eines der vielen sowjetischen Relikte, die ich auf dieser Reise bisher gesehen habe. Eingang, Laden rechts, geradeaus der Mehrzwecksaal des Dorfes. Früher wahrscheinlich das Kulturzentrum. Ein Großteil der Waren ist hinter der Theke verbarrikadiert, streng bewacht von einer älteren Dame mit Kittelschürze und Betonfrisur, die aber merklich auftaut, als ich ihr mein Eis und eine Flasche Kvass hinstelle (die waren immerhin noch frei zugänglich...).
Das Eis esse ich draußen auf dem vorzüglich gestalteten Platz zwischen dem alten Kulturhaus und dem genauso alten Verwaltungsgebäude des Ortes, sowjetische Zweckbauten, wie ich sie überall hier im Baltikum gesehen habe. Die Holzlaster rasen weiter vorbei, der alte Lada fährt vor dem Laden vor, der Fahrer erkennt mich wieder, wir nicken beide verbindlich.
Hinter Ramata erwischt mich der erste Regen seit Wochen. Schirm raus, die Luft duftet unglaublich gut, nasser Staub auf dem Asphalt, dampfender Wald, ein kühler Windzug rauscht durch die Bäume. Irgendwann bin ich an der Grenze zwischen Lettland und Estland, schieße mein obligatorisches Foto und bin drüben. Nächstes Land.
Aber ich komme nicht weit. Nur 300m weiter liegt ein einsames Haus neben der alten Grenzstation, das erste Wohnhaus in Estland. Daneben sehe ich jemanden Feuerholz aufstapeln, eine orangene Schirmmütze ploppt hinter dem Holzstapel hervor und winkt schon weitem. „Tere, tere!“ Ob ich ihm beim Holzstapeln helfen will. Auf jeden Fall! An solchen Gelegenheiten sollte man auf der Straße niemals vorbeigehen. Wir stellen uns vor, die Schirmmütze heißt Tanel, und er führt einen derart majestätischen Bierbauch spazieren, daß ich wirklich neidisch werde. Wir stapeln vielleicht eine oder zwei Stunden Holz zusammen, quatschen ein bißchen, er erzählt von seinen Reisen und seiner Zeit in Deutschland. Der Holzstapel wächst, mir gefällt die Abwechslung und es macht einfach Spaß, sich mit einer Frohnatur wie Tanel zu unterhalten. Die Bremsen schwirren um uns herum, er zeigt mir ein paar Pflanzen zum Essen, die ich natürlich für Unkraut gehalten hätte und es gibt Nachschub an frischem kalten Wasser zur Arbeit. Ich bin so froh, daß ich mir Zeit für sowas nehmen kann, wenn ich das möchte. Oder anders, man sollte eigentlich immer Zeit für sowas haben.
Zum Abschied wird meine Wasserflasche nochmal neu befüllt, mit einem Schwung Erdbeeren und Pfefferminze drin. Sieht gut aus, schmeckt grandios erfrischend. Tanel zaubert einen Motorradhelm hervor und ich raffe noch nicht so ganz, warum. Freundlich bietet er mir an, mich auf seinem Mofa noch ein Stück mitzunehmen, damit ich nicht mehr so weit laufen muß. Das ist super nett, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß das arme zerbrechliche Mofa uns zwei Kawentsmänner plus Rucksack überhaupt tragen wird. Und mich hetzt ja auch nichts.
Also lehne ich lachend ab, mache mich auf den Weg in die tiefstehende Nachmittagssonne. Vor mir liegt noch eine gute Stunde Straße, aber das ist kein Problem. Kurz bevor ich von der Hauptstraße abbiege, kommt Tanel hupend mit dem Mofa vorbei, auf dem Weg nach Hause nach Kilingi-Nõmme. Noch ein paar Worte und er knattert davon, ich biege in Richtung meiner Unterkunft für heute Abend ab.
Ein einsames Haus mit Bauernhof, alleine zwischen Wald und Feld gelegen. Im Garten spielen zwei Kinder und zwei Hunde, ich habe ein ganz kleines Zimmer und ein ganz riesiges Haus für mich allein. Die Hunde wollen spielen und kuscheln, ich tue ihnen gerne den Gefallen, und dann sitze ich noch ein bißchen auf der Terrasse, muß daran denken, daß ich jetzt in Estland bin. Noch 2 oder 3 Wochen, dann bin ich in Tallinn. Seltsamer Gedanke...






















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