Montag, 26. Juni 2023

Tag 30: Baden nach dem Regen.

Montag, 19.06.2023
Morgens 14°, Nachmittags 28°; durchgehend sonnig
8,5h mit Pausen, 5h reine Laufzeit
20km

Cēsis nach Zelten am Sietiņiezis-Felsen

Den Rückweg aus Riga zurück nach Cēsis hab ich mir echt teuer erkauft. Der Nachteil dieses logistischen Ausfallschrittes ist: Wecker um 04:30, Abmarsch um 06:00, damit ich den ersten Zug um 06:46 nach Cēsis bekomme. In meinem ganzen Zug sitzen vielleicht 10 Leute, als wir abfahren.

Wir zuckeln wieder dieselbe Strecke zurück, die ich gestern mit dem Bus nach Riga gefahren bin. Kurz vor Cēsis kann ich aus dem Fenster das Ferienhaus sehen, in dem ich im Winter 2022 Urlaub gemacht habe, also kann ich mich selbstzufrieden wieder hinsetzen. Vom Bahnhof aus ziehe ich los in Richtung Norden. Ursprünglich wollte ich westlich von Cēsis am Fluß entlangwandern, aber mir kommt nicht ganz in den Sinn, warum ich jetzt einen stundenlangen Umweg fast einmal rund um die Stadt machen sollte. Straße ist Straße. 

So kriege ich wenigstens die schlechten Nachrichten rechtzeitig mit. Die Brücke über die Gauja ist gesperrt. Als ich das Schild sehe, rutscht mir erstmal das Herz in die Hose. Ich muß da rüber, die ganzen nächsten zwei Wandertage sind auf der anderen Seite der Gauja geplant. Die nächste Brücke flußabwärts ist ca. 15km entfernt, so daß ich einen ganzen Wandertag bräuchte, nur um drüben auf der anderen Seite anzukommen. Ich zoome nochmal sehr stark in Karte und Google Maps hinein und entscheide mich dann, trotzdem die letzten 4,5km bis zur Brücke weiterzulaufen. Vielleicht gibt es doch irgendeine Möglichkeit. Auf alten Fotos auf Google Maps kann ich sehen, daß es außer der Straßenbrücke auch noch eine Hängebrücke für Fußgänger gibt. Aber ich weiß natürlich nicht, ob die am Ende auch gesperrt oder abgerissen ist, weil sie z.B bei den Bauarbeiten im Weg ist. Aber vielleicht kann ich notfalls die Bauarbeiter mit meinem hervorragenden Lettisch davon überzeugen, mich durchzulassen. Sagen wir es mal so: Wenn ich da heute nicht rüberkomme, ist der Tag sowieso derart im Arsch, daß ich mich entweder nach einem Bus umgucken muß oder ich bleibe heute Nacht nochmal in Cēsis und plane die ganzen nächsten Tage um.


Während ich auf die Brücke zulaufe, spitzt sich die Bau-Choreographie immer weiter zu. Baustellenfahrzeuge, noch mehr Schilder, Absperrbaken, dann der Blick auf die Baustelle mit großem Kran direkt auf der Brücke. Aber da, ganz klein unten rechts, sehe ich ein kleines blaues Fußgänger-Schild. Die Hängebrücke ist tatsächlich offen. Macht ja auch Sinn, die Bauarbeiter müssen ja schließlich auf irgendwie über den Fluß kommen. Ich unterdrücke also einen inneren Jubelschrei mit Beckerfaust und laufe statt dessen ganz cool über die Hängebrücke, als würde ich das jeden Tag machen.

Zur Belohnung gucke ich 100m weiter einem LKW-Fahrer dabei zu, wie er ungelenk etwas Bauschutt in den Straßengraben abkippen will, seinen LKW aber irgendwie doof hingestellt hat (weil quer zur Straße). Als er die Kippmulde ausgeleert hat, fällt ihm auf, daß er plötzlich gar keinen Platz mehr hat, um hier wieder weg zu kommen. Hinter ihm der Schutthaufen, vor ihm der Straßengraben. Ich schaue ihm ein bißchen dabei zu, wie er sich verzweifelt die Rücklichter und den Unterfahrschutz kaputtfährt, um da überhaupt wieder raus zu kommen. Dann gehe ich freundlich winkend an dem LKW vorbei, biege grinsend in den Wald ab und mache auf einem wunderschönen Picknickplatz erstmal eine Sieges-Frühstückspause.


Ich treffe wieder auf den weiß-gelb-weißen Wanderweg und kann entspannt durch Wälder und Felder weiterwandern. Der restliche Tag ist wenig aufregend, ein entspanntes Bummeln ohne Zeitdruck. Allerdings anstrengend, die Luft ist heiß und drückend. Ich höre mehrmals über den Tag die ersten Vorboten von Gewittern, aber es bleibt vorerst trocken. Heute Abend will ich Zelten, habe mich aber noch nicht entschieden, wo. Die erste Option lasse ich rechts liegen, weil ich noch Lust habe weiterzugehen und entscheide mich für den Picknickplatz oberhalb der Sietiņiezis-Felsen.

Weiße Sandsteinfelsen säumen den Fluß, man kann auf Treppen und Stegen daran vorbeispazieren. Von Regen und Erosion ausgewaschen, von tausenden eingeritzten Namen entstellt, sind diese Felsen dennoch einzigartig in Lettland. In einigen von ihnen leben Bienen in winzigen Höhlen. Sie bilden eine gemeinsame Kolonie, bevölkern und bearbeiten aber statt einzelnen Waben tausende kleine bienengroße Löcher im Standstein.

Es gibt einen großzügigen Picknickplatz mit Tischen, einem schick gezimmerten Plumpsklo und einem kleinen Lean.To aus Holz für die Gemütlichkeit. Eine Treppe führt hinunter zum Fluß, zu einem kleinen Sandstrand und gleich daneben zu einer Quelle, wo eiskaltes Wasser direkt aus dem Sandsteinfelsen in die Gauja fließt.

Ich baue mein Zelt auf, sortiere meinen Kram, begrüße immer wieder freundlich die vereinzelten Spaziergehenden, die hier am frühen Abend auftauchen. Gegen 21:00 beginnt es etwas überraschend zu regnen, ich verziehe mich ins Zelt und höre sehr glücklich eine gute halbe Stunde dem Regen zu, wie er auf mein Zelt prasselt. Die Luft danach ist wunderbar kühl und seidig. Ich steige runter zum Fluß und gehe Baden. Das Wasser ist überraschend warm und richtig angenehm, ich kann auf dem Boden die Wanderspuren der Flußmuscheln im Schlick sehen. Etwas Nebel hängt über dem träge dahinfließenden Fluß, es ist total still hier, kein Mensch in der Nähe und ich schwimme glücklich in diesem großartigen Pool mit der atemberaubenden Aussicht auf die Felsen. Gehört heute alles mir.

Ich schäle mich wieder aus dem Wasser und gehe rüber zu der Stelle, an der das Quellwasser in die Gauja fließt. Als ich mit den nackten Füßen in dem kleinen Bach stehe, merke ich erst richtig, WIE KALT die Quelle ist, und muß unter Uh!Ah!Oh! wieder ins freundlich warme Wasser der Gauja huschen, um meinen Kreislauf zu beruhigen.

Noch ein paar Minuten sitze ich auf einem Baumstamm und schaue auf diesen Fluß und das Waldpanorama darumherum. Und kann nur den Kopf darüber schütteln, wie schön dieser Abend ist.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen