Freitag, 16. Juni 2023

Tag 22: Leicht verschätzt, aber soooo schön gebummelt.

Freitag, 09.06.2023
Morgens 7°, Nachmittags 20°; durchgehend sonnig
9,75h mit Pausen, 6h reine Laufzeit
30km
Jēkabpils nach Pļaviņas

Auf dem Weg raus aus Jēkabpils mache ich einen kleinen Schlenker über den Marktplatz. Aha, ok, das Wahrzeichen des Ortes ist also ein Luchs, Dönerbude, alles da, also weiter. Ich drehe mich nochmal um und blinzele kräftig: Dieser Marktplatz erinnert mich eher an eine schwedische Kleinstadt als an Lettland. Irgendwas ist anders hier. Nur das wuchtige Rathaus am Marktplatz wirkt etwas fehlplatziert, die anderen Logenplätze rund um den Markt teilen sich schöne alte Backsteinhäuser, skandinavisch anmutende Holzhäuser und zeitlose Zweckbauten.

Nur 10 Minuten weiter muß ich über die Daugava-Brücke rüber nach Krustpils, der Schwesterstadt am anderen Flußufer. Die Brücke ist gerammelt voll mit Autos, Bussen, LKWs, Schwertransportern. Nach all den Tagen im Wald wird mir jetzt erst wieder klar, wie laut und geruchsintensiv Verkehr sein kann. Örks.

Wenn ich vorgestern Jēkabpils durch die schöne Tür betreten habe, muß ich heute quasi das Gegenteil tun. Lärmige Hauptstraßen, immerhin ein schicker Blick auf das Schloß Kreutzburg, diverse Kreisverkehre und Bahnanlagen, Fabrik für Betonteile, Tierheim, dann der letzte Friedhof und endlich freies Feld. Ich mache sofort die erste Pause, ich habe heute nur wenig Strecke vor mir und kann daher so viel Zeit verbummeln, wie ich nur irgend möchte.

Weiter hinten am Waldrand habe ich mir in der Planungsphase eine fabelhafte Streckenführung rausgesucht, schön auf kleinen Wegen durch den Wald nach Norden. Was mir dabei vollkommen entgangen ist: Hier ist ne Sandgrube! Alle 3 Minuten klappert und staubt ein LKW an mir vorbei und ich stehe an der Kreuzung und meine selbstgezimmerte Route möchte, daß ich jetzt genau hier links in die Sandgrube abbiegen. Widerwillig folge ich meinen eigenen Anweisungen, weil ich auf der Karte schon wieder sehen kann, daß alles andere ein riesiger Umweg wäre. Also hetze ich am Rand der Sandgrube entlang und bete dabei förmlich, daß mich kein Kipper auf dem gerade mal kipperbreiten Feldweg zu Brei fährt. 


Nach einer halben Sandgrubenumrundung kann ich auf einen kleinen Weg abbiegen, der mich – ganz untypisch für lettische Verhältnisse – mit vielen Kurven und ganz verwunschen durch den Wald führt. Ich mache bald schon wieder Pause, weil es sich hier am Waldrand so schön sitzt / lagert und irgendwann erwische ich mich dabei, wie ich von meinem eigenen Schnarchen aus einem ungeplanten Nickerchen aufwache.

Knapp zwei Stunden weiter ist dann Schluß mit Idylle. Ich muß auf die A6 Riga-Daugavpils ausweichen, eine Hauptverkehrsstraße, die die beiden größten Städte Lettlands miteinander verbindet. Für das bevorstehende Wochenende wird auf und hinter Autos alles Mögliche hin und her gekarrt: Boote, SUP-Boards, Fahrräder. Dazu LKW-Transitverkehr vom Feinsten. Ich halte mich hart am linken Rand, und es geht auch nicht anders. Die Brücke da vorne kurz vor dem Ortseingang von Pļaviņas ist mal wieder der einzige Übergang weit und breit über irgendwas Wässriges.

Gefühlt bin ich schon halb da, Pļaviņas ist mein Ziel für heute. Aber bei einer kleinen Rast am Fluß, in einem schönen Park auf einer alten Schanzenanlage wird mir klar: Heute hab ich mich mal gehörig verschätzt. Ich dachte so an lockere 24km (und entsprechend habe ich auch ordentlich pausiert und rumgebummelt), aber es werden wohl eher so an die 30km werden. Vorne war die Tour ein bißchen länger als gedacht, hintenraus wird sie es auch nochmal werden, weil meine Unterkunft für die Nacht deutlich hinter dem Ort liegt. Also habe ich doch noch eine gute Stunde zu gehen.


Aber heute schockt mich das nicht. Ich habe Zeit, genieße die Aussicht auf die in der Sonne glitzernde Daugava, kaufe mir im nächsten Supermarkt noch ein paar Vorräte und ein Eis, ziehe auf der Uferpromenade weiter den Fluß entlang. Meine Unterkunft ist ein Landstraßenmotel außerhalb des Ortes, offensichtlich ist es bei mir ja inzwischen Tradition, daß auf jeder Tour mindestens ein schräges Autobahnhotel o.ä. dabei sein muß. In diesem Fall beschert mir das leider noch einige gehweglose Kilometer entlang des Zubringers zur Schnellstraße. Die letzten Schritte gehe ich auf der alten, aufgegebenen Landstraße, eingezwängt zwischen Zubringer und Schnellstraße, an der noch ein paar verlorene Holzhäuser stehen.

Das Motel ist – mutig. Als ich um 19:00 ankomme, ist das für meine Verhältnisse relativ spät. Für die Verhältnisse dieses Motels aber wohl relativ früh, kein einziges Auto auf dem Parkplatz, und die Frau hinter dem Tresen schaut mich an wie ein Maulwurf, als ich zur Tür hereinkomme. Sie winkt noch jemanden herbei, der mir auf Englisch klarmachen kann, daß es erst ab 21:00 heißes Wasser gibt, ich steige eine Metalltreppe hinauf unter die Dachschräge und beziehe ein seltsames Zimmer, das man am besten als eine Mischung zwischen englischem Kitsch, skandinavischer Strenge und polnischem Pragmatismus beschreiben könnte.

Ich dusche kalt, steige wieder hinunter in die Bar, die Barfrau dreht den lettischen Discopop nur für mich an, ich trinke zwei Bier zur Soljanka und zum Tellergericht mit Salat und – was will ich eigentlich mehr? Besänftigt von zwei Bier nimmt der Abend ein zügiges Ende, während ich den einzelnen LKW auf der Landstraße beim Vorbeirauschen zuhöre.


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